Bea reisst von zuhause aus. An einer Autobahn-Raststätte wird sie von der etwas älteren Lou aufgegriffen. Die beiden Frauen kennen sich flüchtig aus der Nachbarschaft, und weil Bea sich gegen eine Rückkehr nach Hause sträubt, nimmt Lou sie kurzerhand mit – auf eine Fahrt zu ihrer Tante in West-Texas.
Es ist der Auftakt einer wilde Roadstory zweier junger Frauen: «West, West Texas» heisst die neue Graphic Novel von Tillie Walden.
Glühende Farben
Tillie Walden gilt als eines der grössten Talente der amerikanischen Comic-Szene. Sie ist zwar erst 23-jährig, hat aber schon mehrere vielbeachtete und preisgekrönte Graphic Novels veröffentlicht, etwa «Pirouetten», die Geschichte ihres Coming-Outs.
Magischer Fiebertraum
Dass die beiden jungen Frauen in «West, West Texas» auf ihrer Fahrt durch Texas inneren Ballast mit sich schleppen, ist bald klar. Doch es dauert lange, bis sie genügend Vertrauen aufgebaut haben, um sich ihre Geschichten zu erzählen: Der sexuelle Missbrauch Beas durch ihren Cousin; Lous schmerzhafte Enttäuschungen in ihrer Kindheit.
Zu diesem Zeitpunkt stecken Lou und Bea allerdings bereits tief in einem zweiten, fantastischen Abenteuer. Es beginnt mit einer zugelaufenen grauen Katze, die laut ihrer Marke in einer Ortschaft namens West lebt.
Vom Moment an, in dem Lou und Bea beschliessen, die Katze zu ihren Besitzern zurückzubringen, spielen Texas und ihre Geschichte verrückt: Die Ortschaft West ist auf keiner Karte eingezeichnet, ein Schneesturm bedrängt die Frauen, zwei unheimliche Männer fordern die Katze und setzen Lou und Bea in einem mysteriösen Fahrzeug nach, Lous Tante kann ihnen keine Zuflucht bieten.
Schliesslich fliehen Lou und Bea über eine gewaltige Brücke, die hinter ihnen zerbröselt – und die subtile, psychologische Roadstory zweier junger lesbischer Frauen mutiert endgültig zu einem magischen Fiebertraum.
Ganz im Augenblick
West Texas, so heisst es einmal in «West, West Texas», sei die perfekte Mischung aus riesengross und winzig klein. Alles, das Land, der Himmel, habe seinen eigenen Kopf und sein eigenes Herz.
Walden schafft einen furiosen Strudel, der die beiden Frauen mitsamt ihrer Vergangenheit immer tiefer in eine magische Welt reisst, in der sie ihre Traumata und Ängste überwinden und sich auf eine Rückkehr vorbereiten.
«West, West Texas»ist überschäumend erzählt und fantastisch überhöht; die Zeichnungen sind ausdrucksstark und dynamisch, die Farben glühen.
Einiges bleibt in «West, West Texas» unklar. Die Verschränkung der psychologischen mit der fantastischen Ebene ist nicht immer zwingend.
Das kann als Schwäche, aber auch als Stärke betrachtet werden: Wie auf einer echten Reise geht es weniger um das Woher und das Wohin, als um den Augenblick und die Erfahrung. Und das vermittelt Tillie Walden in «West, West Texas» auf intensive und erfrischende Weise zugleich.