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Lukas Bärfuss: «Die Krume Brot»
Aus Kultur-Aktualität vom 18.04.2023. Bild: Keystone / EPA / Alexander Heimann
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Neuer Roman «Die Krume Brot» Lukas Bärfuss: «Wir haben verlernt, mit den Armen mitzufühlen»

Armut kann ganze Leben zerstören – auch in der reichen Schweiz. Davon erzählt der neue Roman des Schweizer Schriftstellers Lukas Bärfuss. Im Zentrum von «Die Krume Brot» steht eine junge Frau im Zürich der 1960er- und 1970er-Jahre, deren Leben aufgrund materieller Not zur Hölle wird. Lukas Bärfuss über ein Buch, in dem persönliche Betroffenheit und politischer Zündstoff stecken – aber auch Sprachlosigkeit.

Lukas Bärfuss

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Nach der Matur absolvierte Lukas Bärfuss eine Ausbildung zum Buchhändler. Seit 1997 lebt und arbeitet er als freier Schriftsteller in Zürich. 1998 begründete er die freie Theatergruppe 400asa mit. Für sein Stück «Der Bus» wurde er 2005 vom «Theater heute» zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt.

2008 erschien sein erster Roman «Hundert Tage». Für sein literarisches Schaffen und im Besonderen für seine Theaterstücke erhielt er 2013 den Berliner Literaturpreis. 2019 wurde ihm der Georg-Büchner-Preis verliehen.

SRF: In «Die Krume Brot» versucht die Hauptfigur namens Adelina sich mit prekären Jobs durchzuschlagen – an der Bartheke oder in Fabriken. Haben Sie damit selbst Erfahrung?

Lukas Bärfuss: Ich war in jungen Jahren in der Fabrik, so wie meine Mutter und meine Tante. Die Erinnerung daran ist für mich noch immer sehr lebendig. Ich stand zwar selbst nie am Fliessband. Aber ich habe erfahren, was es heisst, absolut geisttötende Arbeiten verrichten zu müssen.

War dies der Anlass für Sie, den Roman über die fiktive Adelina zu schreiben, die aufgrund ihrer Armut in eine Abwärtsspirale gerät?

Es gab nicht den einen Anlass. Sicher spielten die 1970er-Jahre eine Rolle, in denen der Roman zu einem grossen Teil angesiedelt ist. Das war die Zeit meiner frühen Kindheit.

Ich glaube, dass unser Leben durch nichts so sehr bestimmt wird, wie durch unsere Nationalität.

Die Lebens- und Arbeitssituation meiner Verwandten, vor allem meiner Mutter, ist mir bis heute in starker Erinnerung. Ebenso die damalige Atmosphäre. Meine Gedanken an all das haben sich über viele Jahre kondensiert. Ich glaube, dass mich dieses Buch eigentlich schon mein ganzes Leben begleitet.

Neben der Armut scheint im Roman auch das Thema Migration auf: Adelina gerät unter anderem wegen ihrer italienischen Abstammung in die Mühlen der Armut. Ungleichheit aufgrund der Herkunft beschäftigt Sie schon länger, unter anderem in Ihrem Essay «Vaters Kiste». Was treibt Sie an?

Möglicherweise das Schicksalshafte. Ich fand es immer erstaunlich, dass ich vor meinem Namen eine Nationalität bekommen hatte. Ich glaube, dass unser Leben durch nichts so sehr bestimmt wird, wie durch unsere Nationalität. Sie bestimmt von Beginn weg die Weichen für das weitere Schicksal.

Und für die Ungerechtigkeiten, die damit verbunden sind?

Absolut. Ich persönlich habe in dieser genetischen Lotterie als Schweizer das grosse Los gezogen. Aber den allermeisten Menschen geht es nicht so. Wir verstehen unsere Zeit und unsere Verhältnisse nicht, wenn wir uns nicht mit dem sogenannten Fremden und der Migration auseinandersetzen.

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Ihr Roman ist voll Empathie für die leidgeprüfte Adelina. Als Leserin oder Leser fühlt man sich bisweilen ohnmächtig, weil man ihr nicht zu Hilfe eilen kann. Haben Sie ähnliche Gefühle für Ihre Figur?

Ich habe genau dieselbe Empfindung. Ich möchte ihr immer wieder zurufen, in einer bestimmten Situation aufzupassen oder jenes nicht zu tun. Aber die Kräfte, die auf Adelina einwirken, sind so gross, dass sie schlicht keine Möglichkeit findet, ihr eigenes Leben in die eigenen Hände zu nehmen.

Sie steht unter dem ständigen Zwang, den nächsten Tag überleben zu können. Ihre wirtschaftliche Armut reduziert ihre Möglichkeiten, verengt ihren Blick und verhindert die Entwicklung eines Bewusstseins für die eigene Situation.

Liegt ihr Unglück nur an den Umständen oder auch an ihr selbst?

Das ist die Frage dieses Buchs. Ich habe darauf keine endgültige Antwort gefunden. Was prägt zuletzt unser Leben? Sind tatsächlich unsere eigenen Entscheidungen ausschlaggebend? Oder die Geschichte? Oder die familiäre Herkunft? Vermutlich alles zusammen.

Lukas Bärfuss auf Ansichten

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Legende: SRF

Lukas Bärfuss exponiert sich als Essayist regelmässig mit pointierten politischen Stellungnahmen. Der Schweizer Autor ist mehrfach preisgekrönt, unter anderem mit dem Georg-Büchner-Preis 2019. Mehr zum Lesen, Sehen und Hören von Lukas Bärfuss gibt es auf der SRF-Literaturplattform «Ansichten».

Ihr Roman erzählt auch vom Schweigen der Eltern gegenüber den eigenen Kindern.

Dies spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Der Vater erzählt nicht, dass er für Mussolini in den Krieg gezogen ist und dabei Schreckliches erlebt hat. Er teilt seine Geschichte nicht mit. Und so haben die Kinder keine Möglichkeit, aus den Erfahrungen der Eltern etwas zu lernen. Mein Buch ist auch ein Buch über die verheerenden Folgen des Verschweigens.

Diese Sprachlosigkeit setzt sich darin fort, dass Adelina trotz neun Jahren Volksschule Analphabetin bleibt. Wie sehr trägt dies dazu bei, dass sie immer tiefer in den Sumpf gerät?

Nicht lesen und schreiben zu können, ist für Adelina natürlich sehr nachteilig. Ursächlich für ihr Verhängnis ist zum Beispiel aber auch ein schlechter Zahn, der horrende Zahnarztrechnungen verursacht. Was dies bedeutet, habe ich selbst erlebt.

Ich habe immer versucht, Bücher zu schreiben, die ich selbst nicht ganz verstehe.

Ohne wirtschaftliche Möglichkeiten werden die kleinsten Lebensereignisse wie ein kaputter Zahn zu einer grossen Gefahr, die eine ganze Kettenreaktion auslösen kann. Oder anders gesagt: Ich weiss nicht, was am Ende die Ursache ist für das Elend. Diese Frage treibt mich noch immer um.

Sie haben als Autor nicht den Anspruch, alles im Roman erklären zu können?

Nein, im Gegenteil, ich habe immer versucht, Bücher zu schreiben, die ich selbst nicht ganz verstehe, und die irgendein Geheimnis beinhalten. Dies ist möglicherweise auch der Grund für die Beteiligung, die man an der Literatur hat, dass es etwas gibt, das man nicht vollständig versteht, aber mit dem man mitempfindet.

Buchhinweis

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Lukas Bärfuss: «Die Krume Brot». Rowohlt 2023. (Das von Sandra Hüller gelesene Hörbuch erscheint bei Argon.)

Ihr Roman ist also ein Versuch, Adelinas Los zu erforschen. Und der erste Schritt dazu ist es, ihr überhaupt eine Sprache zu geben?

Unbedingt. In der bürgerlichen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat die Beschreibung der Armut immer eine wesentliche Rolle gespielt. Danach standen eher die Erfolgreichen und Siegertypen im Zentrum.

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Lukas Bärfuss: «Wir vererben Geld und hinterlassen Müll»
aus Tagesgespräch vom 10.01.2023. Bild: KEYSTONE/DPA/Jens Kalaene
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Vielleicht hängt es auch mit der Entwicklung des Neoliberalismus ausgerechnet in diesen 1970er-Jahren zusammen, dass wir verlernt haben, empathisch zu sein mit den Marginalisierten in unserer Gesellschaft.

Im Roman lassen Sie einen Kommunisten auftreten, der Adelinas Leiden als Folge der Industriegesellschaft bezeichnet. Wie nahe steht Ihnen diese Deutung?

Ich glaube, man kann dem Kommunisten in vielem, was er sagt, zustimmen. Auch Adelina spricht auf seine Erklärungen an. Gleichzeitig lehne ich seine Haltung aber auch ab. Denn er versucht, mit seiner ausschliesslich antikapitalistischen Deutung des Elends die bewaffnete Gewalt zu legitimieren. Und da hört mein Verständnis auf.

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Wie sehr möchten Sie mit ihrer fiktiven Figur Adelina den Zahllosen eine Stimme geben, die heute weltweit auf der Flucht sind vor Krieg, Hunger und Armut?

Das spielt sicher eine wesentliche Rolle. Aber wenn ich einen Roman schreibe, dann versuche ich nicht nur in die Welt hinauszuschauen, sondern auch in mich selbst hineinzuhorchen. Sicher gibt es im Roman viele Bezugspunkte zu unserer heutigen Zeit.

Dennoch ist er doch eher ein Versuch, mit mir selbst, mit meiner eigenen Geschichte und mit der Geschichte der Armut in meiner Familie in ein Verhältnis zu kommen. Aber wenn sich im Roman die innere und die äussere Sphäre miteinander verbinden, ist mir möglicherweise etwas gelungen.

Das Gespräch führte Felix Münger.

Lukas Bärfuss auf SRF 2 Kultur

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Am 20. April spricht Lukas Bärfuss in «Künste im Gespräch» über seinen neuen Roman «Die Krume Brot». Um 09:03 Uhr auf SRF 2 Kultur oder hier zum Nachhören.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Aktualität, 18.04.2023, 07:52 Uhr ; 

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