Die Situation ist absurd. An jenem 12. August 2022 betritt Salman Rushdie die Bühne des Amphitheaters in Chautauqua im Bundesstaat New York, um über die Sicherheit von Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu reden.
Und weiss nicht, dass sich auf dem Gelände der Veranstaltung seit Tagen ein junger Mann aufhält, der nichts anderes im Sinn hat, als ihn zu töten.
Der junge Mann – im weiteren Verlauf des Buches A. genannt wie «Attentäter», «Angreifer» oder schlicht «Arschloch» – hat sich über Salman Rushdie informiert.
Nicht in Rushdies Büchern natürlich, von denen er keines gelesen hat, sondern in Videos auf YouTube. Von dort weiss er mit Bestimmtheit, dass Rushdie «kein netter Mann» sei, wie er später zu Protokoll gibt.
Fürs Leben gezeichnet
Und so stürmt dieser 24-jährige Islamist kurz nach Beginn der Veranstaltung die Bühne des Amphitheaters und verletzt Salman Rushdie schwer. 15 Messerstiche treffen Rushdie im Gesicht, in der Brust, am Hals, im Unterleib, in der Hand. Ein Stich trifft das rechte Auge, das nicht mehr zu retten ist.
Wäre der Stich nur ein klein wenig tiefer in den Schädel eingedrungen, wäre auch das Hirn betroffen gewesen. Salman Rushdie hätte wohl nicht überlebt. Sicher aber wäre er nicht mehr in der Lage gewesen, weitere Bücher zu schreiben.
Eine alte Wunde neu aufreissen
Eindrücklich beschreibt Salman Rushdie in seinem neuen Buch das Attentat und dessen unmittelbare Folgen und bestätigt so seinen Ruf als begnadeter Erzähler. Er scheint Dramatik und Absurdität der Situation geradezu zu geniessen.
Aber er beschränkt sich nicht auf den Effekt. Und auch nicht auf die äusseren Folgen des Anschlags. Er geht weiter. «Knife» geht tiefer, könnte man sagen. Schreibend versucht er herauszufinden, wie sehr der Anschlag ihn erschüttert und verändert hat.
Dem Attentat etwas Positives abgewinnen?
Die Veränderung zeigt sich vor allem auch in der zweiten Geschichte, die Salman Rushdie in seinem Buch erzählt. An der Liebesgeschichte zwischen ihm und seiner Frau Eliza, mit der er zum Zeitpunkt des Anschlags fünf Jahre zusammen ist. Sie wird am Ende des Buches einen ersten Roman geschrieben haben und offenbar eine neue Qualität in Rushdies Leben gebracht.
Die Erfahrung dauerhaften Glücks. Sie ist es denn auch, die ihn überleben lässt nach dem Anschlag, die ihm die Kraft gibt, ins Leben zurückzukehren, und ihm schlussendlich auch die Erkenntnis vermittelt, dass nur die Liebe zählt.
Eine erstaunliche Erkenntnis für einen Spötter und Satiriker. Selbst Salman Rushdie scheint sich darüber zu wundern. Und geniesst auch diese unerwartete Wendung seines Buches und stellt sie sehr gekonnt dar.
In alter Manier, nur mit mehr Liebe
Ansonsten ist Salman Rushdie immer noch Salman Rushdie. Der Mann mit der Fatwa, der Unglückliche, dessen Schicksal es ist, das Los dieser Fatwa zu tragen. So zum Symbol für Meinungsfreiheit, Demokratie und für das freie Wort zu werden, ohne das es keine Literatur gibt. Und keine Zivilisation.
Er ist nach wie vor der grosse Erzähler, der er immer gewesen ist, der von Wundern erzählt, ohne an Wunder zu glauben. Abgesehen vom Wunder der Liebe, dem er hier einen ganz besonderen Platz einräumt in seinem neuen Buch: den Platz als Gegenmittel gegen Hass und Niedertracht. Gut also, unschätzbar gut sogar, dass Salman Rushdie wieder zurück am Schreibtisch ist.