Was kümmert es einen 24-jährigen Mann in New Jersey, was 33 Jahre zuvor ein greiser Ayatollah in Teheran verkündete? Mehr als man sich denken mag: «Ich respektiere den Ayatollah. Ich denke, er ist eine grossartige Person», sagte der 24-Jährige. Salman Rushdie hingegen möge er nicht, ganz und gar nicht. «I don’t like him. I don’t like him very much.» Rushdie habe den Islam angegriffen, den Glauben, sagt der Tatverdächtige in der «New York Post».
Damit verdichten sich die Hinweise, wonach der Tatverdächtige zumindest teilweise von der Fatwa Khomeinis motiviert war, auch wenn er das explizit nicht sagte. Hinzu kam wohl eine eigentliche Beeinflussung durch schiitisch-extremistische Propaganda. Damit wird einmal mehr deutlich, welche Kraft extremistische Propaganda entwickeln kann.
Rushdie ist nicht allein
Doch Salman Rushdie ist nicht allein. Die Todes-Fatwa gegen ihn kein seltener Ausrutscher. Der Hass gegen vermeintlich Gottes-lästernde Künstler keine Seltenheit. All das keine Altlast vergangener Zeiten. Die Drohungen, die Angst, die Angriffe sind für etliche Menschen Alltag.
Einige nicht abschliessende Beispiele:
Hamed Abdel-Samad, deutsch-ägyptischer Schriftsteller. Er verfasste unter anderem «Der islamische Faschismus». Seither muss er mit Morddrohungen leben, wurde trotz Polizeibegleitung auf offener Strasse in Berlin angegriffen. «Werde ich das nächste Opfer sein?», diese Frage habe er sich schon gestellt nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo, nach der Enthauptung des französischen Lehrers Samuel Patty, der in der Klasse Mohammed-Karikaturen besprach, schreibt Abdel-Samad in der «NZZ».
Aryana Sayeed, 1985 geboren in Kabul, Sängerin. Vor der ersten Machtübernahme durch die Taliban war ihre Familie 1993 nach London geflohen. 2001 kehrte sie zurück, wurde zum Star – eine in der Öffentlichkeit singende Frau, mit offenem Haar, glitzernden Kleidern. Seit Jahren ist sie mit der Todes-Fatwa belegt. Als die Taliban vor einem Jahr erneut an die Macht kamen, konnte Sayeed gerade noch entkommen.
Shahin Najafi, in den USA lebender iranischer Musiker. Gegen ihn erging 2012 eine iranische Todes-Fatwa. In einem ironischen Lied hatte er sich über einen Imam lustig gemacht. Der «Berliner Zeitung» sagte Najafi, er habe nun Twitter-Nachrichten erhalten: «Shahin Najafi, du bist der Nächste. Der Anschlag war ein Sieg für die Radikalen – aber zum Glück lebt Rushdie.»
Seyran Ateş, als 21-Jährige wurde die gebürtige Türkin lebensgefährlich verletzt, weil sie gegen die patriarchalen Strukturen rebellierte. Heute lebt sie in Berlin, ist Anwältin, leitet die Ibn-Ruschd-Goethe-Moschee, in der auch Frauen predigen. Ateş wird mit Hassmails eingedeckt, immer wieder bedroht, muss unter Polizeischutz leben.
Fatwas sind Selbstjustiz ausserhalb des Rechtssystems
Fatwas mit Mordaufrufen bilden nur die tödlichste Form von Fatwas. Solche Gutachten auf Basis der Scharia können für alle Lebensfragen eingeholt werden: von der korrekten Verrichtung des Gebets über Beziehungsprobleme bis zu möglichen Ausnahmen von Pflichten wie den täglich fünf Gebeten. Man mag das als kulturell geprägte Tradition oder eine Art Alltags-Coaching für Gläubige halten. Und klar ist: nicht jede Fatwa ist eine Todes-Fatwa.
Doch der Angriff auf Rushdie sollte Anstoss sein, genau hinzuschauen, wo und wie Fatwas auch in westlichen Ländern ausgesprochen und angewandt werden – worauf es beispielsweise in Deutschland und Grossbritannien Hinweise gibt. Denn man sollte benennen, was Fatwas letztlich sind: Anmassungen angeblicher Gelehrter, oder besser: Selbstjustiz ausserhalb jedes demokratisch-rechtsstaatlichen Systems.