Viele Anfang-Dreissiger-Menschen verarbeiten zurzeit ihre Lebenserfahrungen in persönlichen Essays: Die Millennial-Generation möchte aufräumen und aufarbeiten. Dass nun ausgerechnet die schlagfertige Sophie Passmann einen sehr emotionalen, beinahe verletzlichen Einblick in ihr Leben gibt, ihre Gedanken viel weniger pointiert verpackt als üblich, überrascht.
Die 29-jährige Autorin, Moderatorin und erklärte Feministin hat schon viel über «alte weisse Männer» geschrieben, einen gleichnamigen Bestseller im Jahr 2019 zum Beispiel. In ihrem vierten Buch «Pick me girls» geht es abermals um den männlichen Blick. Diesmal arbeitet sie sich vor allem an Frauen ab, genauer: den sogenannten «Pick me girls».
Hauptsache Aufmerksamkeit
Ein «Pick me girl» ist eines, das «anders als andere Frauen» sein will. Zum Beispiel «einfach mehr wie Männer». Das erste Mal tauchte der Begriff 2020 auf Tiktok auf. Passmann gibt an, selbst ein «Pick me girl» gewesen zu sein: Sie sass auf Skateplätzen herum und machte «die härtesten Witze, die, über die nur die Jungs lachen wollten.» Weil sie sich in ihrem Körper nicht schön und liebenswert fühlte, wurde sie laut und schrill. Und das alles nur, damit Männer sie mögen.
Im Passmann-typischen Durchpflügen popkultureller Ergüsse entlarvt sie dieses Verhalten, das vor allem in Serien und Filmen der Nullerjahre geprägt wurde: Die Hauptdarstellerinnen wollen immerzu eine noch bessere Version ihrer selbst werden.
Für Passmann sind diese Bestrebungen eine reine Überlebenstaktik von Frauen. «Es geht um Scham, um Selbsthass und um das ständige Gefühl, dass mit einem selbst etwas grundlegend falscher, hässlicher oder unangenehmer ist als mit anderen Mädchen.» Es geht darum, von Männern anerkannt zu werden und dadurch zu existieren.
Ein geschlechterspezifisches Trauma
Passman schildert diese nicht ganz neue feministische Erkenntnis aus Millennial-Perspektive, diagnostiziert aber die daraus resultierenden traumatischen Erfahrungen jeder Frau. Damit kommt sie für sich und die Leserinnen zu einer heilenden Erkenntnis: Ich war nicht allein.
Sie plädiert dafür, sich so zu verhalten, wie man will. Passmann hat sich die Augenringe wegspritzen lassen, verliert sich gerne im Kaufrausch und präsentiert auf Instagram nicht nur ihre teils extravaganten Kleidungsstücke, sondern auch viel Haut. Man könnte meinen: Sie macht, was sie will.
Schlaues Vermarkten
Gleichzeitig ist sie eine Meisterin der Aufmerksamkeitserzeugung. Sie hat bereits einige Shitstorms hinter sich. Passman weiss, wie es ist, nicht den Erwartungen zu entsprechen, und sie weiss, wie sie das zu ihren Gunsten nutzt. In ihrer Art, zu sich gefunden zu haben, erfindet sie sich immer wieder neu – was sie und ihre Gedanken so fesselnd macht.
Passmann gelangt geschickt vom Persönlichen in einen theoretischen Überbau. Sie mischt langjährige Therapieerfahrung mit Internetweisheiten und kreiert so eine brillante Analyse weiblicher Unterdrückung.
«Pick me girls» ist gewiss kein feministisches Manifest, auch reflektiert Passmann nur beiläufig ihre weisse, westdeutsche und bürgerliche Herkunft, womit sie anderen Feministinnen aufstossen mag. Aber: Ihr Blick auf Nuancen und ihre schlaue Komik machen das Buch zu einem unterhaltsamen und tiefsinnigen Leseerlebnis.