«Missglückt» nannte Haruki Murakami seine Kurzgeschichte «Die Stadt und ihre ungewisse Mauer» von 1980 mal. Nun hat er den alten Stoff in eine neue Form gegossen. Gleich geblieben ist neben dem Inhalt auch der Titel.
Der Ich-Erzähler des neuen Romans «Die Stadt und ihre ungewisse Mauer» ist zunächst ein Jugendlicher, der sich unsterblich in ein Mädchen verliebt. Die beiden pflegen eine intensive Brieffreundschaft. Die junge Angebetete verschwindet und lebt – wie sich später herausstellt – hinter der «ungewissen» Mauer der geheimnisvollen Stadt.
Der namenlose Erzähler folgt ihr an diesen Ort. Er muss, wie alle anderen vor ihm, seinen Schatten beim Wächter am Tor der Mauer zurücklassen.
Uhren ohne Zeiger, Menschen ohne Schatten
In dieser mysteriösen Stadt ist vieles anders als in der realen Welt: Die Menschen haben keine Schatten, die Uhren keine Zeiger und man trifft immer wieder auf Einhörner, die sterben, wenn es schneit. Diese Stadt wirkt trostlos und alptraumhaft.
Der Ich-Erzähler arbeitet als Traumleser und begegnet seiner Jugendliebe, die keine Erinnerung an ihn hat. Er findet auf mysteriöse Weise in die reale Welt zurück und arbeitet in einer japanischen Kleinstadt als Leiter einer Bibliothek.
Auch in der realen Welt lässt ihn die mysteriöse Stadt nicht in Ruhe: Der Protagonist trifft auf den Geist seines verstorbenen Vorgängers in der Bibliothek sowie auf einen Jugendlichen. Auch diese beiden Figuren kennen die andere Welt, die Stadt mit ihrer ungewissen Mauer.
Whisky, Jazz und magischer Realismus
Im zweiten Teil des Romans streut der Schriftsteller dann – neben dem magischen Realismus – je eine Prise der Ingredienzen in seinen Text, die für ihn typisch sind: Der einsame Protagonist zeigt sich als grandioser Koch, als Wein- und Whisky-Liebhaber sowie als Jazzkenner.
Dass der Protagonist ein sinnlicher Mensch ist, erfährt man erst spät im Buch: als er einen Flirt mit einer Betreiberin eines Coffeeshops beginnt. Doch auch hier bleibt die mysteriöse Geschichte um die geheimnisvolle Parallelwelt dominant.
Langatmig, aber poetisch
Murakami schrieb zwar die von ihm selbst als missglückt eingestufte Geschichte neu. Gerade die Zweitverwertung des alten Stoffs wirkt jedoch langatmig, durch viele Wiederholungen, mystische und symbolische Andeutungen.
Was das Werk bei aller Langatmigkeit auszeichnet, ist die intime Atmosphäre, die der Schriftsteller schafft. Auch zeichnet er mit seinem leichten Wortfluss poetische Bilder, wie zum Beispiel die Beschreibung von toten Einhörnern im Schnee.
Folge deinem Herzen, und du kommst überall hin
Das Spiel um Schatten und Licht, Unbewusstes und Bewusstes, Traum und Realität ist viel zu aufgeladen. Die Moral der Geschichte ist, dass jedes Herz jede Mauer überwinden kann. Man muss dem Herzen einfach genug Raum lassen.
Ein solches Fazit nach über 600 Seiten Lektüre wirkt pubertär. Die lange Geschichte ist streckenweise pathetisch und verlangt den Leserinnen und Lesern viel Durchhaltevermögen ab. Man muss wohl ein Murakami-Fan sein, um das zu geniessen.