Mit seinen zwei Toren im WM-Halbfinal 1998 gegen Kroatien wurde der Franzose Lilian Thuram zur lebenden Fussballlegende. Doch der Weg dahin war voller Hindernisse. Der schwarze Spieler aus Guadeloupe hat Rassismus am eigenen Leib erlebt.
Ausgerechnet die Literatur hat ihm geholfen, Rassismus zu verstehen. Nun befeuert der 50-Jährige mit seinem Buch «Das weisse Denken» die Rassismus-Debatte.
SRF: Was war Ihre erste Erfahrung mit Rassismus?
Lilian Thuram: Als ich mit neun Jahren in Paris in die dritte Klasse kam, wurde mir bewusst, dass ich schwarz bin. Es gab Kinder, die mich als dreckigen Schwarzen beschimpften. Diese Erfahrung hat mich verletzt. Ich habe zu Hause die Geschichte meiner Mutter erzählt und sie hat mir eine sehr schlechte Antwort gegeben. Sie sagte: Es ist so. Die Menschen sind rassistisch und das wird sich nicht ändern. Als ob Rassismus ein unabwendbares Schicksal wäre!
Mit der Resignation Ihrer Mutter gaben Sie sich nicht zufrieden und haben nach anderen Antworten gesucht. Wo haben Sie sie gefunden?
In der Literatur. Beispielsweise habe ich Autoren wie Aimé Césaire und Frantz Fanon gelesen. Frantz Fanon war sehr wichtig für mich zur Reflexion und zum Verständnis von Rassismus. Sein Buch «Schwarze Haut, weisse Masken» lese ich immer wieder und nehme jedes Mal neue Aspekte wahr.
Als ich Fussballspieler in Italien war, haben die Fans Affengeräusche gemacht.
Auch habe ich viele Geschichtsbücher über die Sklaverei und den Kolonialismus gelesen. Und da bin ich beispielsweise dem «Code Noir» begegnet. Das war für mich fundamental. Die Erkenntnis, dass es während der Sklaverei tatsächlich Gesetze gab, die regelten, wie man sich gegenüber schwarzen Menschen verhalten sollte.
Wie hat sich Rassismus auf dem Fussballfeld geäussert?
In meiner Jugend gab es einen Torwart namens Joseph-Antoine Bell. Er war in der französischen Liga rassistischen Handlungen ausgesetzt. Das ist mir im Gedächtnis geblieben. Und als ich Fussballspieler in Italien war, haben die Fans Affengeräusche gemacht.
Es gibt immer mehr Menschen, die sich radikalisieren und nicht wollen, dass in der Gesellschaft ein Wandel stattfindet.
Das war vor 20, 30 Jahren. Gibt es heute weniger rassistische Ausschreitungen in Fussballstadien?
Nein. In ganz Europa gibt es immer mehr rassistische Gesänge in den Stadien, aber es wird auch mehr darüber gesprochen. Das bedeutet einerseits, dass die Gesellschaft nicht die Augen verschliesst. Andererseits gibt es immer mehr Menschen, die sich radikalisieren. Und das sind diejenigen, die die weisse Vorherrschaft verteidigen und nicht wollen, dass in der Gesellschaft ein Wandel stattfindet.
Sie haben ein Buch geschrieben: «Das weisse Denken» und damit die Rassismus-Debatte in Frankreich befeuert. Was verstehen Sie unter einem weissen Denken?
Das ist diese politische Ideologie, die die Menschen nach ihrer Hautfarbe klassifiziert und die Idee konstruiert hat, dass Weiss-Sein etwas Besseres ist. Aber ein weisses Denken zu haben, betrifft nicht einfach nur die Weissen. Ich bin auf den Antillen geboren. Und dort ist die Idee, dass Weiss-Sein besser ist, tief in der westindischen Kultur verwurzelt.
Als meine Mutter jünger war, wurde ihr zum Beispiel gesagt, dass es für sie interessanter wäre, jemanden mit hellerer Hautfarbe zu heiraten, um Kinder mit einer weniger schwarzen Haut zu bekommen.
In Asien oder auf dem afrikanischen Kontinent gibt es übrigens viele Menschen, die ihre Haut bleichen. Warum? Weil es für sie besser ist, weiss zu sein. Und da wird es für mich interessant. Man muss den Leuten bewusst machen, dass dieses weisse Denken seit Jahrhunderten konstruiert worden ist.
Das Gespräch führte Annette König.