Es könnte eine simple Uni-Romanze sein, die sich Andreas Neeser mit seinem Roman vornimmt: Brunner, ein angehender Sonderpädagoge Mitte 20, lernt in in der Bibliothek die Rechtsstudentin Katrin kennen.
Die beiden verlieben sich und verbringen einen langen Sommer zusammen. Aber, wie Brunner an einer Stelle selbst sagt: «Glück isch nüüt für gueti Gschichte. Glück isch nid für zum Grüble.»
Brunner und Katrin tragen beide trotz ihres jungen Alters bereits einen ansehnlichen Rucksack voller emotionalem Ballast mit sich herum.
Die Vergangenheit verfolgt sie
Brunner musste vor sieben Jahren tatenlos zusehen, wie sein Bruder bei einem brutalen Unfall ums Leben kam und hat seither ein unterkühltes Verhältnis zum Rest seiner Familie. Dass er seinem Bruder helfen wollte und nichts unternehmen konnte, verfolgt ihn bis in die Gegenwart.
Trost findet er einzig im Alkohol, den er allein am Küchentisch in so rauen Mengen konsumiert, dass er dabei regelmässig zu halluzinieren beginnt.
Katrin wäre für Brunners Helfersyndrom an sich die perfekte Empfängerin. Schon als junges Mädchen wurde sie von einem Freund ihres Vaters jahrelang sexuell missbraucht – und ihr Vater wusste darüber bestens Bescheid.
Auch Katrin hat mit ihrer Vergangenheit noch nicht im geringsten abgeschlossen: Sie hat grösste Mühe, sich auf Nähe zu Menschen ausserhalb ihrer Familie einzulassen.
Anders als Brunner hat sie noch nicht einmal die Abnabelung von ihrem Vater geschafft: Sie wohnt bei ihm und arbeitet nebenbei auch als seine Buchhalterin und Haushaltshilfe.
Zwischen Katrin und Brunner stellt sich eine Art Amour fou ein. Die beiden wären an sich wie geschaffen füreinander. Doch bei fast jedem Schritt, den Brunner auf Katrin zu macht, stösst sie ihn umso brutaler und weiter von sich weg – und ihn noch tiefer in das Loch voller Selbstzweifel, aus dem er ohnehin kaum herausfindet.
Knappe, aber bildhafte Sprache
Andreas Neeser lässt tief in die Köpfe seiner Figuren blicken. Dabei beweist er ein feines Gespür für Gefühle und eine scharfe Beobachtungsgabe. Sprachlich benützt er ein überraschend effizientes Medium: seinen eigenen Dialekt, die Ruedertaler Mundart.
«Alpefisch» ist trotz der knapp gehaltenen Sprache ungemein bildstark und erlaubt auch dialektmässig Unbewanderten einen unmittelbaren Zugang zum Geschehen. Man muss nicht aus dem Aargau stammen, um zu verstehen, was hinter einem von Katrins zahlreichen «Tammisiech» alles steckt, das sich auf Hochdeutsch gar nicht ausdrücken liesse.
Erstes Mundartbuch gelingt
Für Andreas Neeser ist die Mundartliteratur kein Neuland mehr, das merkt man beim Lesen. Seit 2009 hat er bereits drei Bücher mit Mundartprosa und Gedichten veröffentlicht. «Alpefisch» ist nun Neesers erstes Mundartbuch in voller Romanlänge.
Wenn man Mundart – sie trägt ihre Mündlichkeit im Namen – als Erzählsprache in einem geschriebenen Werk benutzt, wagt man einen Balanceakt. Das Risiko ist gross, dass die Sprache plötzlich nicht mehr mündlich, sondern hölzern oder gekünstelt wirkt.
Diesen Balanceakt schafft der Autor mit Bravour: «Alpefisch» ist ein rundum gelungener Roman. Nicht trotz, sondern wahrscheinlich gerade wegen des Dialekts.
Sendung: Radio SRF 1, Schnabelweid, 27.2.2020, 21.03 Uhr