Arno Geiger hat sich nie gescheut, in seinen Werken grosse Fragen aufzuwerfen. In «Reise nach Laredo» erkundet er die Bedingungen eines gelingenden Lebens. Der Roman rührt ans Eingemachte und ist ein Wurf voller Überraschungen.
Diese beginnen nur schon mit der Wahl der Hauptfigur: ein König namens Karl. Er lebt Mitte des 16. Jahrhunderts, ist gut 50-jährig und hat vor Kurzem alle seine Ämter niedergelegt, um sich in die Einsamkeit das spanischen Klosters Yuste rund 200 Kilometer westlich von Madrid zurückzuziehen.
Im schwarzen Loch
Hier will sich der einst mächtige Herrscher auf den Tod vorbereiten. Karl ist schwerkrank. Schmerzen plagen ihn. Gicht. Er ist des Lebens überdrüssig: «Enttäuschungen huschten durch sein Gedächtnis, die vielen Reisen, die seine Gesundheit ruiniert, die vielen Kriege, die seine Nerven aufgerieben hatten.»
Im Rückblick erscheint Karl sein «Lebensweg, der sich von einem Krieg zum andern schlängelte» als sinnlos: «Um wie viel besser war die Welt nach all der Mühe? Wozu das alles?»
Aber dann beschliesst Karl aus einer Laune heraus, sich zu einer letzten Reise aufzuraffen. Das Ziel ist die kleine Hafenstadt Laredo im Norden Spaniens. Nur von einem 11-jährigen Pagen begleitet, zieht er los, mit Pferd und Kutsche.
Aufbruch zu sich selbst
Die Reise erweist sich als überaus abenteuerlich. Karl und der Knabe geraten in Raufereien. Sie treffen auf erbarmungswürdigen Kreaturen, Ausgestossene, mit denen sie sich zusammentun und gemeinsam weiterziehen. Später erliegt Karl zwischenzeitlich dem Alkohol und der Spielsucht. Man muss fliehen.
Auf seiner Reise erlebt der abgehalfterte König aber auch zum ersten Mal, was echte Zuneigung bedeutet: das Gefühl, als Mensch geschätzt zu werden. Subtil schildert Arno Geiger, wie Karl «ein Gefühl der Wärme und Heiterkeit» erfasst, als er realisiert, dass andere in ihm einen echten Freund sehen.
«Er konnte sich jetzt vorstellen, nochmals ein anderer zu werden.» Das Gefühl verändert Karls Sicht auf das Leben grundlegend. Aber es hat eine Kehrseite. Es ist verbunden «mit der Einsicht in das Versäumnis des Lebens».
Historische Vorlage
Arno Geiger lehnt sich mit seiner Figur Karl an den historischen Monarchen Karl V. an, der von 1500 bis 1558 lebte und als König des spanischen Weltreichs zu seiner Zeit der mächtigste Herrscher der Welt war. Karl V. zog sich – wie die Romanfigur – kurz vor seinem Tod ins Kloster Yuste zurück.
Die von Arno Geiger geschilderte Reise nach Laredo ist indessen reine Fiktion. In ihr offenbart sich die tiefe Metaphorik des Romans: Der Trip führt den Todgeweihten von der Endstation Yuste nochmals zurück ins Leben.
Und so stirbt der fiktive König – im Unterschied zum historischen – nicht abgeschieden hinter Klostermauern. Sondern nach einem Roadtrip in die Welt – und zu sich selbst – unter freiem Himmel beim Bad in den sanften Wellen der Biskaya vor Laredo.
Berührend und beglückend
«Also, das ist das Leben, das ist es, wozu man lebt», durchfährt es Karl kurz vor seinem Ende. «Ich bin hierhergekommen, um das herauszufinden.» Wenn man gelebt hat, so die Einsicht des Sterbenden, kann selbst der Tod schön sein.
Dank der Reise nach Laredo schafft es Karl – buchstäblich im letzten Moment – sich mit sich zu selbst versöhnen. Arno Geiger schildert diese seelische Reifung herzergreifend, mitreissend und beglückend.