1963: Zora del Buono ist gerade einmal acht Monate alt, als ihr Vater bei einem Autounfall in der Ostschweiz ums Leben kommt. Der tote Vater – er wird zur Leerstelle in ihrem Leben.
Sie hat keine Erinnerungen an ihn, dafür aber an die tiefe Trauer ihrer Mutter. «Das fand ich schlimm als Kind: zu sehen, wie meine Mutter leidet», erzählt del Buono.
Zora del Buono wuchs allein bei ihrer Mutter auf. Über den Unfall geredet wurde nie. Parkierte irgendwo ein VW-Käfer, also jenes Automodell, in dem ihr Vater umkam, versuchte del Buono, ihre Mutter abzulenken. Liefen Formel-1-Rennen im Fernsehen, stellte sie das Gerät ab. Sie wollte den Schmerz der Mutter nicht wecken.
Inzwischen ist del Buonos Mutter dement. Von ihrem Mann Manfredi, der aus Süditalien stammte und mit nur 33 Jahren starb, weiss sie nichts mehr. Auch ihre Tochter Zora erkennt sie nicht mehr. Vor kurzem musste sie in ein Pflegeheim ziehen.
«Den Typen geh' ich suchen»
Beim Räumen der Wohnung ihrer Mutter stiess Zora del Buono auf Fotos und Dokumente von früher. Daraufhin wuchs ihr Bedürfnis, jetzt – nach 60 Jahren – mehr über den Unfall von damals zu erfahren. «Ich dachte plötzlich: Rein rechnerisch könnte der Typ, der meinen Vater totgefahren hat, noch leben. Ich gehe den suchen!»
Zora del Buono hat diese Suche schriftlich dokumentiert. Daraus entstanden ist das Buch «Seinetwegen». Del Buono geht darin den Fragen nach: Wie hat dieser Mann all die Jahre gelebt, mit seiner Schuld? Was war er für ein Mensch?
Von der Architektin zur Schriftstellerin
Zora del Buono studierte als junge Frau Architektur an der ETH Zürich und in Berlin. Später wandte sie sich vermehrt dem Schreiben zu. Heute zählt sie zu den renommiertesten Schweizer Schriftstellerinnen.
So verfasste sie beispielsweise eine Novelle über den Bau des Gotthardtunnels. Und im Jahr 2020 erschien «Die Marschallin». Der Roman erzählt die Lebensgeschichte ihrer Grossmutter, der Mutter ihres Vaters.
Auch darin bereits angerissen: der Verkehrsunfall ihres Vaters, dem Zora del Buono nun mit «Seinetwegen» ein eigenes Buch gewidmet hat.
«Wäre ich nicht krank gewesen...»
Im Buch trägt der Verursacher die Initialen E.T. – wie der Ausserirdische. Damals, an jenem Sommermorgen im Jahr 1963, fuhr E.T. mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf der Landstrasse.
In einer Kurve – in einer unübersichtlichen Situation also – überholte er ein Pferdefuhrwerk und prallte auf der Gegenfahrbahn frontal mit dem Auto zusammen, in dem Manfredi del Buono sass.
Laut Unfallstatistik kamen im Jahr 1963 in der Schweiz 1330 Menschen im Strassenverkehr ums Leben. Einer davon: Zora del Buonos Vater.
Eigentlich hätten auch die acht Monate alte Zora und ihre Mutter in dem Auto sitzen sollen. Doch weil Zora krank war, entschied sich ihre Mutter, nicht mitzufahren.
Dass Schicksalsschläge oft eine Sache von wenigen Minuten oder Sekunden sind, gehe ihr bis heute nicht aus dem Kopf, sagt del Buono: «Wäre ich damals nicht krank gewesen, wäre alles anders gekommen. Dann wären wir vielleicht drei Minuten später ins Auto gestiegen, der Unfall wäre nicht passiert, und ich hätte mit meinem Vater aufwachsen können.»
Ein verantwortungsloser Hallodri?
E.T. gestand seine Schuld damals sofort ein. Er wurde zu 200 Franken Busse verurteilt sowie zu zwei Jahren auf Bewährung. Das tönt nach nicht viel.
Allerdings – und das ist eines der Dinge, die del Buono während ihrer Recherche herausfindet – musste E.T. noch jahrelang die Rückforderungen der Versicherung abstottern.
«Ich glaube, am Ende war die grösste Strafe für ihn, mit dieser Schuld leben zu müssen. Der Schuld, einen Menschen getötet zu haben», so del Buono.
Die Autorin fuhr für ihre Recherchen quer durch die Schweiz. Sie suchte die Unfallstelle, stöberte in Archiven. Ob sie E.T. gefunden und was sie noch alles über ihn erfahren hat, steht im Buch.
An dieser Stelle nur so viel: «In meiner Familie galt er immer als verantwortungsloser Hallodri, der sein Leben nach dem Unfall einfach so weitergelebt hat. Dieses Bild musste ich revidieren», verrät del Buono.
Keine Anklageschrift
Etappe für Etappe dokumentiert Zora del Buono in «Seinetwegen» ihre Suche nach E.T.. Sie erzählt aber auch Anekdoten aus ihrer Kindheit und baut auflockernde «Kaffeehausgespräche» mit Freunden ein. So ist ihr ein abwechslungsreiches, vielschichtiges Buch gelungen.
Vor allem aber ist es ein behutsam tastendes Buch – und keine plumpe Anklageschrift gegen den Mann, der ihr so früh im Leben den Vater genommen hat. Mit jedem Puzzleteil, das del Buono herausfindet, zeigt sie: Auch wer grossen Mist gebaut hat, ist letztlich: ein Mensch.