Alles fängt ganz harmlos an. Eine linksalternative Familie lebt in den 1990ern mit der fünfjährigen Tochter in einem Bergdorf. Dort geht die Mutter der Bildhauerei nach, während der Vater, ein Umweltschützer, sich lieber um Frösche und Unken kümmert als um sein Kind.
Beide Eltern glauben an anti-autoritäre Erziehung und Selbstverwirklichung. Das klingt gut, bedeutet aber, dass das Kind oft allein ist. Anschluss findet es in dem Kaff kaum, in dem es mit seiner WWF-Mütze zwischen den Bauernkindern heraussticht. So verkriecht es sich in seine Innenwelt.
Schnell wird klar, dass mit der Fünfjährigen etwas nicht stimmt: Sie zieht Schwimmbrille und Schnorchel an, um heimlich in der Badewanne zu weinen, nässt das Bett, und spricht kaum ein Wort.
Nur ein Engel steht ihr bei
Ihren einzigen Freund bildet sie sich ein: einen eloquenten Engel, mit dem sie sich oft unterhält. Der Kniff des Romans ist, dass sich vieles erst über diese teils traumartigen Dialoge erschliesst.
Der Engel entpuppt sich dabei als beunruhigender Beschützer. Denn das Mädchen will ihn zuerst in einer Videoaufnahme ihres Nachbars Ege entdeckt haben. Man ahnt bald, was dahintersteckt.
Ege ist ein Medientheoretiker, der sich aus Berlin aufs Land zurückgezogen hat. Dort führt der Alt-68er eine erfolglose philosophische Praxis, trinkt sich zu Tode und schwadroniert von der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen.
Alle schauen weg
Das Mädchen verbringt beim Nachbarn viel Zeit. Denn anders als zu Hause darf es dort fernsehen. Die Eltern lehnen das zwar ab, es kommt ihnen aber eigentlich ganz gelegen.
So bekommen sie nicht mit, dass Ege ihre Tochter bald in seine Videofilme einbindet. Dass er sie missbraucht, will er nicht wahrhaben. Vielmehr sieht er sich als mutiger Pionier – ähnlich wie pädophile Künstler und Pädagogen vor ihm.
Auch die anderen Erwachsenen schauen lieber weg. Etwa Eges Partnerin Gisela, die oft verreist und sich die Situation schönredet: «Gisela kann den Haushalt ein wenig in Schuss, das Altglas wegbringen. Vielleicht ein paar Tage wegfahren, dem Kind ein Taschengeld geben. Alles hat seinen Preis. Das Kind hat doch auch ein Interesse.» Sätze, die wehtun.
Gespräche mit Tätern und Opfern
Die Erwachsenen sind nicht die Einzigen, die nicht begreifen wollen. Eine Stärke von Sarah Elena Müllers Roman ist es, dass man sich auch als Leserin oder Leser anfänglich dabei erwischt, die Situation zu verharmlosen.
Der Missbrauch wird nicht gezeigt, sondern nur angedeutet. Vieles erschliesst sich nur indirekt aus den Gesprächen mit dem Engel und den Verharmlosungen der Dorfgemeinschaft. Das sorgt für einen literarischen Verfremdungseffekt.
Die Schriftstellerin hat für ihr Buch nach eigener Angabe mit vielen Betroffenen, einem Cyberforensiker und einem Täter gesprochen. Sie habe den fiktiven Missbrauchsfall differenziert schildern wollen, sagte sie in einem Interview, fernab der blossen Empörung. Das gelingt ihr ausserordentlich gut.
Beklemmend und brillant
«Bild ohne Mädchen» macht uns zu Zeugen der Hilflosigkeit. Der Roman zeigt, wie Kindesmissbrauch jahrelang stattfinden kann, weil niemand das Offensichtliche wahrhaben möchte – gerade auch in einem vermeintlich progressiven Umfeld. Fälle wie Florian Teichtmeister oder Jürg Jegge fallen einem ein.
Das ist beklemmend. Aber das ist auch grosse Literatur. «Bild ohne Mädchen» dürfte schon jetzt ein Anwärter auf den Schweizer Buchpreis sein.