Das Zurücktreten sei seine Art hervorzutreten, schrieb Philippe Jaccottet 1956, das Verlöschen sei seine Art zu glänzen. Er suche stets das treffende, angemessene, richtige und gerechte Wort. Nicht mehr, nicht weniger. Damit ist er eine internationale Berühmtheit geworden.
Jaccottet wurde 1925 im waadtländischen Moudon geboren. Eine Zeit lang lebte er in Paris und in Lausanne. 1953 heiratete er die Malerin Anne-Marie Haesler. Im selben Jahr zogen beide nach Grignan, ein kleines Dorf in Südfrankreich
Hier lebte Jacottet fast 70 Jahre lang bis zu seinem Tod. Grignan wurde für ihn Lebensinhalt und Stoff seiner Poesie.
Diese Ergriffenheit
«Dichtung», sagte Jaccottet einmal auf SRF 2 Kultur, «ist zuerst ein Zustand des Seins, des Menschen, und nicht eine Arbeit mit Wörtern.» Jaccottets «Seinszustand» in Grignan aber war eine Ergriffenheit, die ihm selbst rätselhaft erschien.
Er wollte wissen, warum er von der Natur – vor allem von der Natur, aber auch von menschlichen Beziehungen oder Dingen – so tief berührt war.
Durch die Blumen, durch die Wiesen, durch die einfachsten Dinge der Welt habe er etwas fühlen können, das rätselhaft sei und doch einfach zugleich. «Das war meine Absicht immer, diese seltsame und tiefe Begegnung mit der Welt ausdrücken zu können.»
Rätsel, keine Idyllen
Jaccottet versuchte näher zu bestimmen, was das heissen und bedeuten könnte, wenn wir sagen, die Natur sei «schön». Den Begriff Gottes lehnte er ab, aber er wollte etwas Ursprüngliches und Reines hinter den Dingen erfahrbar machen. Wichtig war ihm dabei, dass es dennoch ein Rätsel blieb.
Gerade angesichts der Schlechtigkeit der Welt hielt er es für seine Pflicht, von der Schönheit und von den glücklichen Momenten zu sprechen. Er war gegen jede Schwarzmalerei. Gleichzeitig hatte er grosse Angst davor, Idyllen zu produzieren.
Um keinen Preis wollte er mit seiner Poesie dazu beitragen, das Elend zu verleugnen. Kein Eskapismus!
Kerzen im Wirbelsturm
Er verstand sein Schreiben als «ängstliche Stimme». Als Versuch, «die grauenerregende Stille» zu überwinden. Grauenerregend war ihm die Stille, weil er in ihr den Lärm der Welt hörte: Kriege, Folter, Gewalt, Verbrechen, Tod.
Sein Werk war der Versuch, Schönheit und Glück so darzustellen, dass das Hässliche und das Unglück der Welt nicht vergessen gehen. «Das Ganze gleicht dem Kampf von ein paar Kerzen im Wirbelsturm.»
Ein Poet und Übersetzer
Im Zentrum von Jaccottets Werk stehen tagebuchartige Aufzeichnungen, in denen er Gedichte, poetische Prosa und Essays nebeneinander stellte. Ein «zweites Handwerk» betrieb er als Rezensent, als Herausgeber und als Übersetzer aus nicht weniger als fünf Sprachen.
Jaccottet hasste Rhetorik, Selbstinszenierung und grosse Auftritte. Sein Ideal war die Einfachheit, die auf der intensiven Arbeit beruhte, das treffende Wort zu finden. Er war ortsverbunden, aber nicht lokal oder gar provinziell.
«Ein fernes Fest»
Er hielt sich an das Unscheinbare und Alltägliche. Unter seinem Blick begannen die einfachsten Dinge seltsam zu schillern und zu glänzen, als hätten sie etwas zu verbergen «Ein fernes Fest, unter Blätterbögen. Weit weg, immer weiter weg.»
Er war ein Einzelgänger. Die radikale Sprachskepsis der deutschen Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg und die Kahlschlag-Mentalität der «Stunde-Null» machte er nicht mit.
Er vertraute der Sprache und den Bildern, blieb in der Tradition der Romantik. Auch das mag ein Grund dafür gewesen sein, dass der unbekannte Lyriker so bekannt werden konnte.