Margaret Atwood gehört zu den umtriebigsten Autorinnen ihrer Generation. Weltberühmt geworden durch die Dystopie «Der Report der Magd», treibt sie ihre Stoffe unermüdlich weiter. Frauen- und Umweltthemen beschäftigen sie besonders. Wobei sie darauf besteht, dass «Klimawandel» verharmlosend sei und lieber von «Klimakrise» spricht.
Wie soll man leben?
Wer einmal etwas von Margaret Atwood gelesen hat, weiss, dass sie immer brillant, mit scharfem Witz und unbequem schreibt. So ist es auch in «Hier kommen wir nicht lebend raus», 16 Kurzgeschichten. In den acht mittleren schüttet Atwood ein Füllhorn von Themen und Formen aus. Die vier ersten und die vier letzten Geschichten handeln von einem alten Ehepaar.
Nell und Tig sind unschwer als Margaret Atwood und Graeme Gibson zu erkennen. Mit Gibson war Atwood 45 Jahre verheiratet, bis er vor fünf Jahren starb – ein unermesslicher Verlust. So sind die Geschichten von Nell und Tig Geschichten des Rückblicks und der Trauer. Vor allem aber kreisen sie um die Frage, wie man leben soll.
Satire auf Lebens- und Todesangst
Zum Auftakt, in der Erzählung «Erste Hilfe oder Hier kommen wir nicht lebend raus», erinnert sich Nell, wie sie und Tig als junge Menschen auf einem Kreuzfahrtschiff anheuerten. Sie sollten dort naturkundliche Vorträge halten. Bevor es losging, mussten sie eine epische Einführung in Erster Hilfe absolvieren.
Margaret Atwood macht daraus eine urkomische Satire auf Lebens- und Todesangst. Das junge Paar gibt sich Mühe, lässt das Gelernte aber bald wieder schleifen. Es vergisst die Vorsicht und in den kanadischen Wäldern manchmal sogar die Angst vor Bären: «Dann sich lieber in Sicherheit wiegen.» Selbstvergessen und mit einer gehörigen Portion Selbstironie ausgestattet navigieren sie fortan durchs Leben.
Herausforderungen des Lebens
Atwood erzählt von Nell und Tig in ganz eigenen Bildern. Nach Tigs Tod stellt Nell zum Beispiel fest, dass sie wieder isst wie als Studentin – mit einer diffusen Angst im Bauch, im Stehen, irgendwelche Reste, ein Buch in der Hand. Es ist, als hätte Tigs Tod sie auf einen Ausgangspunkt ihres Lebens zurückgeworfen.
«Old Babes In The Woods» heisst Margaret Atwoods Erzählband im Original. Nell und Tig fühlen sich den Herausforderungen des Lebens gegenüber manchmal tatsächlich wie Babys. Ausgeliefert, aber auch voller Staunen ziehen sie ihre Bahn.
Eine Schnecke, die sich in einen Menschen verwandelt
Die Erzählungen von Nell und Tig im Band «Hier kommen wir nicht lebend raus» umrahmen acht Geschichten, in denen Margaret Atwood die ganze Palette ihrer Formen und Themen ausbreitet. Es gibt Science-Fiction, feministische, ökologische und dystopische Texte.
Es gibt eine spiritistische Begegnung mit George Orwell, dem nicht beizubringen ist, was «Impfgegner» bedeutet und eine Schnecke, die sich in einen Menschen verwandelt. «Es muss einen Sinn des Lebens geben», sagt sie sich, auch wenn sie, als würdige Verwandte von Kafkas Gregor Samsa, so ihre Zweifel hat. Inhaltlich sind Margaret Atwoods Texte oft düster. Aber sie sind so herzerfrischend klug und frech erzählt, dass man sie einfach lieben muss.