Udo Lindenberg hat es längst getan. Aber auch die deutsche Popband «AnnenMayKantereit» oder das austro-isländische Musik-Duo «Oehl». Sie alle haben auf die eine oder andere Weise Gedichte von Rilke gesungen.
Lyrische Evergreens
«Oft reicht eine Zeile, um daraus einen ganzen Popsong zu schreiben», erklärt Sänger und Songwriter Ariel Oehl. Er verwendet Versatzstücke aus Rilkes Poesie gleich in mehreren seiner Songs. «Rilke arbeitet mit kleinen Metaphern, die ich verstehe und die in der Pop-Musik nicht überfordern.»
Rilke habe «Hitgedichte» geschrieben, sagt Oehl. «Herbsttag» zum Beispiel – mit der bekannten Zeile: «Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr» oder «Der Panther», dem es in seinem Käfig ist, «als ob es tausend Stäbe gäbe. Und hinter tausend Stäben keine Welt».
«Wenn ich diese Zeilen in Pop zitiere, greife ich auf ein gemeinsames Wissen zurück, ohne zu intellektuell zu sein. Das ist die Lyrik für alle Gesellschaftsschichten.»
#Rilke
Rilke ist Mainstream – nicht nur im deutschsprachigen Raum. Seine Gedichte werden in US-Filmproduktionen zitiert, etwa in der Serie «Euphoria». Die Pop-Ikone Lady Gaga beweist ihre Liebe zu Rilke, indem sie sich Sätze von ihm auf den Oberarm hat tätowieren lassen.
Endgültig zum Teil der Pop-Kultur wurde der 1875 geborene Dichter aber durch Social Media. Unter dem Hashtag #Rilke tummeln sich auf Tiktok und Instagram so auch hunderte Videos, in denen 20- bis 30-Jährige seine oft schwermütigen Gedichte zitieren.
Content im Versmass
Eine davon ist Kristina Stojanovic. Die Booktokerin versucht ihre Follower auch für klassische Literatur zu begeistern. Kurze Texte seien dafür besonders geeignet. Auf Tiktok rezitiert sie unter anderem Rilkes Neunzeiler «Mir»: «Das ist mein Streit: Sehnsuchtgeweiht. Durch alle Tage schweifen. Dann, stark und breit. Mit tausend Wurzelstreifen. Tief in das Leben greifen. Und durch das Leid. Weit aus dem Leben reifen. Weit aus der Zeit!»
Den Inhalt versteht man vielleicht nicht auf Anhieb. Aber laut gelesen – in einem Tiktok-Video – klingt das einfach gut.
Denn Rilke war ein sprachmusikalisches Genie – und ein Meister der Melancholie. Zuversicht und Angst halten sich bei ihm die Waage. «Da ist immer das latente Gefühl, dass die Dinge nie ganz richtig sind», meint Ariel Oehl. «Die Angst, dass alles nur flüchtig ist, zeichnet auch die heutige Generation von Jungen aus.»
Tiktok-taugliche Sinnsprüche
Noch beliebter als die Gedichte sind auf Tiktok Rilkes «Briefe an einen jungen Dichter». Zwischen 1903 und 1908 ermutigte Rilke den an seiner Kreativität zweifelnden Franz Xaver Kappus zu Geduld und Selbstvertrauen.
Heute schwärmen junge Influencer, in ihrem Schlafzimmer oder vor einem Bücherregal sitzend, von Rilkes Ratschlägen und zitieren seine Weisheiten. «Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.»
Solche kurzen Sinnsprüche seien wahnsinnig «instagrammable», erklärt Musiker Ariel Oehl, «weil sie in ein Kästchen passen, ohne dass man scrollen muss.» Vor allem aber finden junge Menschen darin bis heute Orientierung.
«Wenn man das liest, wirkt das fast therapeutisch», sagt Booktokerin Kristina Stojanovic. «Die Briefe schenken Hoffnung und bringen einen ein bisschen zur Ruhe. Wir leben in so einer stressigen Welt. Da ist das wichtig für junge Menschen.»