Joshua Gross erzählt von einem ungleichen Paar: Helen ist eine gefeierte Künstlerin, die sich von auftauendem Permafrost, ansteigenden Meeresspiegeln und Sonnenfinsternissen zu ihren Gemälden inspirieren lässt. Lenell ist Erdbebenforscher und untersucht eine tektonische Verwerfungszone vor der Küste Griechenlands.
Ich wollte etwas über liebesethische Fragen herausfinden.
Vor allem aber ist Lenell seit seiner frühen Jugend schwer depressiv und abhängig von Psychopharmaka. Sein Zustand ist ihm bewusst, doch er kann aus eigenem Antrieb nichts daran ändern: Wie die tektonischen Spalten kann Lenell auch die Risse in seinem Geist nur beobachten, nicht aufhalten.
Mehr als psychologische Klimafiktion
An der Oberfläche sieht «Plasmatropfen» aus wie ein Mix aus psychologischem Beziehungsroman und Klimafiktion. Doch Helen besitzt neben ihrer Kunstbegabung noch telekinetische Superkräfte: Sie kann Felsblöcke anheben, den Boden gefrieren lassen oder Wolken verschieben – nur mit der Kraft ihrer Gedanken. Ausserdem vermutet sie, dass sie mit ihren Kräften auch Lenells Depressionen verschwinden lassen könnte.
Das stellt sie allerdings vor grössere ethische Probleme: Ist Helen mit ihren Fähigkeiten verpflichtet, Lenell zu helfen? Darf oder muss sie gar in seine Psyche eingreifen, vielleicht sogar, ohne dass er selbst es mitbekommt? Muss sie den Schmerz ertragen, den sie empfindet, wenn sie ihm zusieht, wie er vor sich hinvegetiert?
Joshua Gross sagt, dieser Roman sei auch eine Versuchsanordnung: «In diesem übermenschlichen Gefüge tun sich liebesethische Fragen auf, über die ich etwas herausfinden wollte: Welche Ansprüche gelten in einer so ungleichen Beziehung, wie kann man sich gegenseitig tragen?»
Kompliziertes Beziehungsgefüge
Gross’ Versuchsanordnung geht allerdings sogar noch über Helens übermenschliche Fähigkeiten hinaus. Ungefähr in der Mitte des Romans taucht plötzlich «Spechtmensch» auf – ein Mischwesen mit Menschenkörper, auf dessen Schultern ein übergrosser Spechtkopf sitzt, samt Federkleid und Schnabel.
Schon der normale Alltag fühlt sich für mich oft sehr frappierend und surreal an.
«Spechtmensch» bringt die Beziehung von Helen und Lenell gehörig durcheinander, weil Lenell sich in ihn verliebt – was für Helen und Lenell eine Möglichkeit bietet, aus ihrer festgefahrenen Beziehung auszubrechen. Mit «Spechtmensch» hält der Surrealismus endgültig Einzug in den Roman.
«Schon der normale Alltag fühlt sich für mich oft sehr frappierend und surrealistisch an», sagt Joshua Gross. Weil er dieses Gefühl in seine Literatur übertragen wollte, habe er sich zurückbesonnen auf die surrealistische Malerei des 20. Jahrhunderts mit ihren Mischwesen.
Suche nach Antworten im Surrealen
Ausserdem begreift Gross das Surreale am Roman ebenfalls als Teil seiner Versuchsanordnung: «Wenn ein Mensch eben nicht nur ein Mensch wäre, sondern einen Tierkopf hätte, was würde sich dann verändern? Eine künstliche, entworfene Welt macht es möglich, solchen Fragen mit Neugier nachzugehen und anders auf die Welt zu schauen und über sie nachzudenken.»
Es sind grosse Fragen der Gegenwart, die Joshua Gross in seinem Buch verhandelt. Fragen nach Ohnmacht und Handlungsfähigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen, gegenüber psychischen Leiden, aber auch angesichts der Klimakrise.
«Wir leben in einer Welt, die sich sehr stark verändert, und zwar in einer Schnelligkeit, die zu Sorge anregt», sagt der Autor. Sein Roman «Plasmatropfen» ist der Versuch, auf eine andere Weise davon zu erzählen, wie Menschen dieser Welt begegnen.