Wenn Irina Kilimnik über ihre Heimatstadt spricht, das ukrainische Odessa, wird ihre Stimme weich und warm. Die Autorin ist 1978 dort geboren und erst als 15-Jährige mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen.
Ein Kulturschock, wie sie sagt. Die vollen Regale im Lebensmittelladen und die grosse Auswahl an allem hätten sie anfangs komplett überfordert.
Inzwischen lebt Irina Kilimnik seit vielen Jahren in Deutschland und schreibt auch auf Deutsch. Nun ist mit «Sommer in Odessa» ihr erster Roman erschienen.
Schatten über dem Stadtsommer
Das Buch spielt im Jahre 2014, in «Odessa Mama», einer Stadt, die nur so vor Hitze flirrt. Es ist eine jugendliche, lebendige und verheissungsvolle Stadt, über die sich jedoch zugleich der Schatten der Krim-Annexion legt.
Beim Lesen spürt man als Hintergrundflackern die Risse, die sich bereits durch die ukrainische Gesellschaft ziehen.
Eine Freundin der Hauptfigur möchte ins Ausland gehen, um einen reichen Mann zu heiraten. Ein Ehepaar trennt sich, weil der Mann für die Russen ist und die Frau für alles, was Ukrainisch ist. Was kommen wird, liegt noch in ferner Zukunft. Dennoch liest man dieses Buch heute mit ganz anderen Augen.
Opernbesuch trotz Kanonendonnern
Irina Kilimnik ist bewusst, dass sich die Gegenwart mit dem Ukrainekrieg zwangsläufig über die Lektüre legt: «Als der Krieg ausbrach, waren wir alle schockiert. Sowohl wir hier in Deutschland als auch meine Verwandten und Freunde in Odessa.»
Das Leben geht trotz Fliegeralarm weiter.
Die Menschen in Odessa würden versuchen, die Normalität beizubehalten, so gut es geht. Zum Glück gehe es der Stadt einigermassen gut, sagt Kilimnik: «Odessa liegt 100 km von der Frontlinie entfernt. Es kommt schon immer wieder mal zum Fliegeralarm, manchmal fallen die Elektrizität oder das Wasser aus. Aber trotz alledem geht das Leben weiter.»
Ihre Freunde würden inzwischen auch mal wieder in die Oper gehen oder am Strand spazieren, so die Autorin: «Sie versuchen, das Leben unter diesen Bedingungen für sich so zu gestalten, wie es ihnen möglich ist.»
Ein Grossvater als Despot
Aber «Sommer in Odessa» ist auch ein Buch über Familie, Freundschaft, Liebe und das Erwachsenwerden. Die Ich-Erzählerin Olga studiert Medizin, mehr oder weniger gegen ihren eigenen Willen. Gemeinsam mit ihrer Mutter, deren beiden Schwestern und ihren Cousinen lebt sie in einer grossen Wohnung in Odessa.
Der einzige Mann in der Familie ist der Grossvater, der wie ein Despot alle Fäden in der Hand hält und die Frauen unter seinem patriarchalen Regime leiden lässt. Für Irina Kilimnik eine «typisch osteuropäische Konstellation».
Im Westen würden sich die Einzelnen vielmehr voneinander und von der Familie und den Traditionen abgrenzen, sagt sie. «Bei uns fühlt man sich der Familie viel stärker verpflichtet. Wir stecken unseren Eltern und Grosseltern gegenüber viel stärker in einer Schuld, die uns nachhängt.»
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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Der doppelte Aufbruch
Ihrer Hauptfigur Olga gehe es nun darum, sich aus diesen Verstrickungen zu lösen. «Ich ziehe gern die Parallele und sage: So wie die Ukraine 2014 Richtung Westen aufbricht, bricht Olga im Sommer 2014 in ihr eigenständiges Leben auf.»
Mit ihrem Debütroman hat Irina Kilimnik nicht nur einen gelungenen Familienroman vorgelegt, sondern auch ihrer Heimatstadt Odessa ein liebevolles Denkmal gesetzt.