Als Kind konnte sich Charles Lewinsky nicht vorstellen, dass sich das Schreiben zum Beruf machen liesse: «Ich fand immer, Schreiben ist etwas, das grossen Spass macht. Und etwas, das Spass macht, kann ja kein Beruf sein», sagte der Autor in der SRF-Sendung «Musik für einen Gast».
Längst weiss es der nunmehr 78-Jährige besser. Lewinsky ist einer der erfolgreichsten Autoren der Schweiz. Und dass er noch immer Freude am Schreiben hat, das spürt man beim Lesen seines neuen Romans. Auf jeder Seite.
Ein frustrierter Werbetexter
«Täuschend echt» heisst das Werk. Es handelt von Künstlicher Intelligenz (KI). Aber es handelt nicht nur von ihr. Es enthält auch Passagen, die von einer KI geschrieben wurden.
Aber von vorn: Hauptfigur des Romans ist ein Werbetexter, der spezialisiert ist auf Müsli-Reklame. Und der verliert auf einen Schlag alles – Liebe, Geld und Job: Er wird entlassen.
Zeitgleich trennt sich seine Freundin von ihm, weil er ihr zu langweilig, zu miesepetrig und mit seinen Ende 30 zu alt ist. Ehe sie geht, steckt sie aber noch dessen Kreditkarte ein. Sein Erspartes wird sie auf Bali verprassen.
Die KI nennt er «Kirsten»
Frustriert, verlassen und verletzt steht der namenlose Ich-Erzähler nun da. Was ihn ablenkt: die Künstliche Intelligenz. Immer wieder gibt er Anfragen in den Chatbot ein. Die Spielerei wird zur Sucht. Schliesslich gibt er seinem KI-Tool sogar einen Namen: «Kirsten».
Und dann verfasst er mithilfe dessen, was Kirsten auf seine Textbefehle hin ausspuckt, sogar einen Roman. Innerhalb eines halben Jahres bringen er und Kirsten 271 Seiten, 71’494 Wörter und 424’684 Zeichen zustande.
Sie werden zum Bestseller. Der einstige Müsli-Texter badet in Hochmut und Glück. Doch dann taucht seine Ex wieder auf und droht damit, ihm seinen Erfolg zu nehmen, indem sie publik macht, wie das Buch entstanden ist.
Zwei Romane in einem
Beim Lesen von «Täuschend echt» hat man also zwei Romane vor sich: Jenen, der von der Misere des Werbetexters handelt. Und jenen Bestseller mit dem griffigen Titel «Angst!», den der Werbetexter mithilfe Künstlicher Intelligenz verfasst.
Die KI-Passagen hat Lewinsky von den Tools «ChatGPT» und «Neuroflash» generieren lassen. Im Text sind sie kursiv hervorgehoben. So stehen sie Lewinskys originären Zeilen dem gegenüber, was die Künstliche Intelligenz aus ihren Abermillionen Internet-Quellen zusammenrührt.
Die KI-Stellen sind erwartungsgemäss voller Klischees und abgenutzter Formulierungen. Doch in dem Mass, in dem Lewinsky sie einflechtet, langweilen sie nicht. Sie treiben die Handlung voran, die von vorne bis hinten perfekt durchkomponiert ist.
Amüsant und leichtfüssig ist dieses Buch. Ein Roman, der zeigt, dass die Künstliche Intelligenz (noch) nicht das Ende der Literatur bedeutet. Sondern dass man auf kreative Weise mit ihr spielen kann. Charles Lewinsky hat grossen Spass beim Schreiben. Wir haben ihn beim Lesen.