Zuerst sieht es gut aus: Sein gewalttätiger Vater, der August Drach als kleines Kind immer wieder verprügelt hatte, macht sich aus dem Staub. August lebt fortan allein mit seiner Mutter Lilly, die ihm früher nach den Prügeln des Vaters stets Trost gespendet hatte.
Wie sich zeigt, war diese Rolle als fürsorgliche Trösterin die einzige Möglichkeit für sie, August Zuneigung zu zeigen. Denn kaum ist der Vater weg, entfremden sich Mutter und Sohn zunehmend voneinander.
Zumindest so lange, bis August eine schwere Erkältung mit Fieber durchmacht. Mit seiner Krankheit findet Lilly zurück in ihre Lebensaufgabe: Sie pflegt ihn, führt ihn zum Arzt und lässt sich im Dorf bestätigen, was für eine vorbildliche Mutter sie sei. Als der Arzt August anschliessend für gesund erklärt, beginnt der eigentlich schockierende Teil dieser Geschichte.
Das eigene Kind misshandelt
Lilly redet ihrem Sohn ein, er sei noch immer krank, er müsse sich schonen. Sie verabreicht ihm rätselhafte Tabletten, die ihn jedes Mal schwächer und müder machen, wenn er sie einnimmt – und das über Jahre, bis August ein junger Mann ist. Seine körperliche Schwäche nimmt er zu dem Zeitpunkt bereits als echt und schicksalsgegeben wahr.
Lilly Drach leidet am sogenannten Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Das ist eine seltene Störung, die in rund 95 Prozent der Fälle Mütter betrifft, die deswegen ihre Kinder misshandeln – ihnen eine Krankheit einreden oder sie aktiv, beispielsweise durch Gift, – krank machen. Das geschieht vorsätzlich, und zwar stets so, dass man das Leiden der Kinder bei medizinischen Untersuchen möglichst für eine «echte» rätselhafte Krankheit hält.
Nur die Trennung hilft
Georg Staubli, der leitende Arzt am Kinderschutzzentrum des Kinderspitals Zürich, hält die Geschichte der Familie Drach in Valerie Fritschs Roman «Zitronen» für geradezu prototypisch. Laut ihm tritt das Syndrom sehr selten auf: Von rund 700 Fällen von Kindesmisshandlung, die in seinem Zentrum behandelt würden, bestünde jährlich nur in einem bis fünf Fällen ein konkreter Verdacht darauf.
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«Die einzige Möglichkeit, diesen Kindern zu helfen, liegt in der Trennung zwischen Mutter und Kind», sagt Staubli. Es zeige sich häufig, dass sie in stationärer Behandlung plötzlich wie von Zauberhand gesund würden, «und damit ist dann der Verdacht klar, dass die Krankheit von aussen herbeigeführt wird. Dann müssen wir die Behörden informieren.»
Zwischen Liebe und Gewalt
Trotz seiner Seltenheit sei das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom aber eine besonders schlimme Form der Kindesmisshandlung, weil die Opfer als Kinder lernen, ihre künstlich erzeugte Krankheit sei «normal». Es liege an den Ärztinnen und Ärzten, in solchen Fällen aufmerksam zu sein und auf das Kind zu hören, «obwohl wir als Kinderärzte in der Regel natürlich den Angaben der Eltern glauben müssen», sagt Georg Staubli.
Valerie Fritsch lässt uns in ihrem Roman tief in die Abgründe blicken, die sich rund um diese psychische Erkrankung der Mutter auftun: Ausserordentlich bildstark beschreibt sie das Spannungsverhältnis von Liebe und Gewalt, das August Drach für sein ganzes Leben prägt. Ihr ist damit ein literarisches Kunstwerk gelungen, das trotz der schweren Kost unbedingt empfehlenswert ist.