Es war eine Überraschung: Im Oktober verkündete das Literatur-Nobelpreiskomitee seine Entscheidung für die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang.
Hierzulande war nur ihr Erfolgsroman «Die Vegetarierin» ein Begriff: eine surreale, abgründige, teils verstörende Lektüre: Eine Frau wird zur Vegetarierin – und verwandelt sich zur Pflanze.
Mit dem Nobelpreis wird nun klar: Die Aufmerksamkeit für Han Kangs Schreiben ist eine grosse Chance, sich mit Südkorea und seiner Geschichte zu befassen. Denn Han Kang hat in vielen ihrer Werke der Gewaltgeschichte ihres Landes eine literarische Form gegeben – und damit den Traumata, die damit verbunden sind.
Über die Zerbrechlichkeit
Han Kang stammt aus der Stadt Gwang-ju. Dort kam es 1980 zu einem grausamen Gewaltausbruch der Militärregierung, mit über 2000 Toten. Es ist eine tiefe Zäsur in Südkoreas Geschichte.
Ihre persönliche Nähe dazu fliesst bereits in Han Kangs bislang wichtigsten Roman «Menschenwerk» ein. Sie beschreibt die Gewalterfahrungen in einem poetischen Neben- und Ineinander von Brutalität und Zartheit.
Stets geht es um die Zerbrechlichkeit des Menschen und des Menschlichen. Liebe und Schmerz sind Grundprinzipien ihres Schreibens. Das betonte Han Kang in ihrer Rede zum Nobelpreis.
Sprache für das Unsagbare
Nun ist mit «Unmöglicher Abschied» Han Kangs neuester Roman auf Deutsch erschienen. Erneut gibt sie kollektivem Leid ein Gesicht. Der Roman beschreibt einen weiteren Gewaltexzess in der koreanischen Geschichte.
Auf der Insel Jeju schlugen 1948 koreanische Truppen einen angeblich kommunistischen Aufstand nieder. Ganze Dörfer wurden ausgelöscht, mehr als 30'000 Menschen getötet.
Jahrzehntelang war es verboten, den Massenmord zu erwähnen. Han Kang findet eine Sprache für das Unsagbare, sie gibt den «Geistern» der Vergangenheit Form.
Gewalt in der Landschaft
Der Roman kreist um ein starkes Traumbild: Eine Berglandschaft mit tausenden schwarzen Baumstämmen, in starkem Schneefall. Es wirkt, «als hätte man am Hang Tausende von Männern, Frauen und Kindern im Schnee ausgesetzt, die Schultern hochgezogen».
«Unmöglicher Abschied» erzählt auch die Geschichte einer Freundschaft. Die Erzählerin Gyeongha erhält von einer langjährigen Freundin einen Auftrag: Durch ein im Schneesturm versinkendes Korea soll sie schleunigst auf die Insel Jeju reisen, um den geliebten Papagei der Freundin zu retten. Es ist eben jene Insel, auf der 1948 das Massaker stattgefunden hat.
Vor Ort gewinnt der Landschaftstraum immer mehr die Macht über sie. Grausame Bilder des traumatischen Ereignisses kehren zurück: Schnee wird von den Gesichtern der damals getöteten Menschen gewischt, um sie zu identifizieren. Auch die Familie der Freundin war von den grausamen Exzessen auf Jeju betroffen.
Körperliche Lektüre
Han Kangs neuer Roman ist eine mitunter verstörende Lektüre – ein intensives, körperliches Leseerlebnis. Die allgegenwärtigen Bilder vom Schnee mögen manche als überstrapaziert und pathetisch empfinden. Doch wer sich auf die Lektüre einlässt, hat die Chance, grosse Wissenslücken über Korea zu schliessen.
Gerade in diesen Tagen, wo der südkoreanische Präsident Yoon überraschend das Kriegsrecht verhängte. Es zeigt sich, wie fragil die Demokratie in Südkorea noch immer ist. Und wie erhellend und notwendig es ist, sich auf Han Kangs Werke einzulassen.