In John Lanchesters neuem Roman sind die Gletscher und Polarkappen abgeschmolzen. Der Meeresspiegel ist massiv gestiegen. Die Kontinente sind im Wasser versunken.
Die Menschen treiben als Heimatlose auf Fischerbooten, Flossen und Barken auf den Wogen der Ozeane. Boat People. Verlorene ohne Hoffnung: Der Klimawandel ist unumkehrbar.
Die Mauer um die Insel
Einzig Grossbritannien hat es geschafft, um die Hauptinsel noch rechtzeitig eine gigantische Mauer zu errichten. Sie hält die Wellen ab. Ebenso Migrantinnen und Migranten, die auf das einzige verbliebene Festland zu gelangen versuchen.
Aber auch hinter der Mauer ist das Leben trostlos. Der Lebensstandard ist tief. Die Kost ist frugal, ein Glas Wein eine seltene Delikatesse.
Mit der Demokratie ist es vorbei. Es herrscht eine kleine privilegierte Elite. Alle anderen haben zu gehorchen. Besonders die Jungen: Sie müssen – Männer wie Frauen – auf der Mauer für Jahre Wachdienst leisten. Und Migranten töten, welche die Mauer vom Meer her überwinden wollen.
Literarische Dystopie
Dieses zutiefst dystopische Szenario entwirft der britische Autor John Lanchester in seinem aktuellen Roman «Die Mauer». Er führt uns eine Zukunft vor, die uns drohen könnte, wenn es die Menschheit nicht schafft, das vermutlich grösste Problem des Planeten zu lösen: die Klimaerwärmung.
John Lanchester hatte vor einigen Jahren im deutschsprachigen Raum seinen literarischen Durchbruch mit dem Roman «Kapital», einem Roman über die Finanzkrise. Bereits damals gelang es ihm trefflich, mit den Mitteln der Literatur Mechanismen der gesellschaftlichen Realität blosszulegen.
In «Die Mauer» legt Lanchester nun ein Scheit nach. Er macht literarisch sichtbar, was der Klimawandel für die Menschheit bedeuten könnte: Das Leben auf dem Planet Erde würde zur Hölle. Das ist die Geschichte, die Lanchester erzählt.
Literarische Warnung vor der Klimakatastrophe
Die Geschichte wirkt umso dringlicher, als sich die internationale Politik beharrlich ausser Stande zeigt, den fatalen CO2-Ausstoss endlich zu stoppen. Das Los der im eingemauerten Britannien lebenden Hauptfigur wird in einer akribisch genauen und kühl-distanzierte Sprache geschildert. Das trägt viel zur Sogwirkung des Romans bei.
Joseph Kavanagh heisst der Mann, der im Zentrum von «Die Mauer» steht. Er ist um die zwanzig und leistet seinen Zwangsdienst als «Verteidiger» auf der Mauer. Er ist voller Verachtung – für die Unglückseligen, die auf den Fluten treiben, und auf die er zu schiessen hat, wenn sie sich zu sehr nähern. Und für die Generation seiner Eltern, die ihm und seinen Altersgenossen eine kaputte Welt hinterlassen hat.
Der kaltschnäuzige und illusionslose Kavanagh ist kein Sympathieträger. Aber man empfindet doch immerhin gelegentlich Empathie mit ihm und seiner misslichen Lage. Am meisten in jenem Moment, als sich sein Leben – ohne seine Schuld – durch eine dramatische Wende radikal verändert.
Abenteuerroman
Immer wieder zückt Lanchester das breite Instrumentarium des Abenteuerromans: Da wird geschossen, Militärtransporter fliegen in die Luft, Granaten explodieren.
Der Roman ist aufgrund seiner Aktualität nicht nur unerträglich beklemmend. Er bietet auch Hochspannung – und zwingt dadurch die Leserschaft förmlich, der im Roman präsentierten Schreckensvision nicht auszuweichen.