Ich treffe Sven Regener im Schwarzen Café in der Berliner Kantstrasse. Ein geeigneter Ort, wenn es darum geht, den Geist der 1980er-Jahre in Westberlin zu erfassen.
Ein eher ungeeigneter Ort für ein Radiointerview. Laute Menschen, laute Stimmen, laute Küche, und spätestens nach der Hälfte des Gesprächs bauen laute Fernsehleute, die nach mir dran sind, bereits ihr Equipment auf.
Aber egal. Mit guter Technik und etwas Erfahrung kriegt man das hin. Möglichst nah ran mit dem Mikrofon und hinterher kräftig filtern.
So kehre ich zum Ausgangsgedanken zurück und frage Sven Regener nach der Bedeutung dieses Ortes hier, damals in den 1980er-Jahren.
Entscheidend sei er gewesen, sagt Sven Regener. Der einzige Ort, der 24 Stunden offen war. Das habe allerdings auch zu üblen Drogenexzessen geführt.
Der angesagteste Ort der Welt
Es sei aber auch ein Ort gewesen, an dem es Jobs gab. Viele haben hier gearbeitet. Richard Pappik zum Beispiel, der Schlagzeuger von Regeners Band Element of Crime, aber auch andere: Künstler, Musiker, Punks, die was arbeiten mussten, um in Westberlin zu überleben. Um aus Westberlin das zu machen, was es für ein paar Jahre dann auch war: der angesagteste Ort der Welt.
Um diese Leute geht’s in «Wiener Strasse»: kreative Menschen, die hierherkommen und ohne akademischen Anspruch und ohne viel Technik völlig Neues und teilweise auch ziemlich Bedeutendes hinkriegen.
Kuchen mit Fähnchen ist Kunst
So wie die Punks, die auch nicht erst Gitarre lernen, bevor sie spielen, sagt Sven Regener. «Wenn Beuys das darf, dürfen wir das auch.» Das sei die Losung gewesen.
Am Deutlichsten kommt dieses Kunstverständnis in einer Szene des Romans zum Ausdruck: Da stellt ein Künstler einen verbrannten Kuchen, den er mit Deutschlandfähnchen geschmückt hat, in die Glasvitrine eines Kuchenlokals. Jetzt sei das Kunst, sagt der Künstler, während ein anderer Künstler dies mit einem «Das ist stark» bestätigt.
«Wiener Strasse» spielt zur Hälfte im Café Einfall. Im Café Einfall treffen sich die Leute, die wir aus den früheren Regener-Romanen kennen. Die Künstler Karl Schmidt und H.R Ledigt und der junge Frank Lehmann, der gerade seinem ersten Berlin-Job als Putze nachgeht.
Eine Westberliner Dödel-WG
Sie sollen nun alle in die Wohnung über dem Einfall einziehen, die ihnen der kunstliebende Barbesitzer Erwin Kächele angeboten hat. Diese Idee sei die Initialzündung für den Roman gewesen, sagt Sven Regener: die Vorstellung, was passiert, wenn vier «Dödel» (Zitat Regener) zusammen in eine Wohnung ziehen.
Darum habe er den Stoff zuerst auch als Sitcom konzipiert und erst später als Roman. Das spürt man. «Wiener Strasse» ist der komödiantischste aller Regener-Romane und bedient sich diverser Komödientechniken wie Running Gags, absurder Situationen, schräger Figuren und zugespitzter Dialoge.
Entsetzen statt besetzen
Zur anderen Hälfte spielt «Wiener Strasse» in der ArschArt-Galerie. Die ArschArt-Galerie ist ein besetztes Haus, in dem eine Gruppe deutscher Aktionskünstler unter der Fuchtel ihres Chefs ihre Performance-Art proben. Bis sich herausstellt, dass weder das Haus besetzt, noch die Gruppe deutsch ist.
Das Haus gehört dem Chef, was aber niemand wissen darf. Die Künstler sind eigentlich Österreicher und haben Heimweh. Und das ist auch so eine Komödien-Technik: den Witz im Gegenteil suchen.
Nach wahren Vorbildern
Die Geschichten sind so oder ähnlich tatsächlich passiert. Sven Regener erwähnt im Gespräch etwa die Gruppe um den österreichischen Aktionskünstler Otto Mühl. Sie sei das Vorbild für seine ArschArt-Leute gewesen.
Selbst das Heimweh sei in Westberlin Thema gewesen. Wer zwei Grenzen zwischen sich und seiner Heimat gezogen habe, habe mitunter auch mal den Boden unter den Füssen verloren, so Regener. In diversen Formen.
Mitleid, aber nicht zuviel
Aber nur Komödie ist «Wiener Strasse» nicht. So hat dieser Roman auch etwas Kaltes. Die Dödel gehen auf dünnem Eis – und tun einem manchmal auch leid. Bis man wieder über sie lachen kann.
Das Komödiantische gibt gleich wieder die gesunde Distanz zum Geschehen und verhindert allzu grosse Identifikation.
Das Gespräch im Schwarzen Café ist vorbei. Sven Regener bedankt sich, steht auf und geht zu den Fernsehleuten rüber. Ich nehme derweil noch etwas Lärm auf. In Stereo. Zum Unterlegen. Denn allzu gefiltert klingen Aufnahmen nicht wirklich lebendig.
Sendung: Radio SRF 1, BuchZeichen, 17.9.2017, 14 Uhr.