Sie hatte etwas von einem Kobold mit ihrem Wuschelkopf und ihrem zauberhaften Schalk. Und ihr trockener Humor war legendär. Als ein Beispiel: 1984 gewann sie den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Später gefragt, wie sie das Preisgeld verwendet habe, antwortete sie: «Ich habe damit ein Atelierfenster gezahlt, und den Rest haben wir aufgegessen.»
So nüchtern und direkt, aber voller Hintersinn, war auch ihr Schreiben. Es drängte sich ihr nach langen Jahren bildnerischen Schaffens plötzlich als «unvermeidlich» auf, weil die Erfahrungen von Bedrohung, Flucht und Zurückweisung nicht länger unausgesprochen bleiben konnten.
Fataler Krieg
Erica Pedretti wurde 1930 als Erika Schefter in Sternberg geboren, in eine weltläufige Familie deutschmährischer Seidenfabrikanten. Sie verlebte eine «nicht sehr sesshafte» Kindheit. Mehrmals war sie für kurze Zeit auch in der Schweiz. Die Grossmutter väterlicherseits war Schweizerin, durch die Heirat mit einem Ausländer aber ohne Bürgerrecht.
Sie konnte nicht helfen, als der Krieg ausbrach und der antifaschistische Vater in Lagerhaft kam. Und als der Krieg zu Ende war, gab es keine Möglichkeit, die Schefters vor den neuen Machthabern zu schützen, die unter Duldung durch die Rote Armee zur Hatz auf alle Deutschmährer bliesen.
Zwangsaussiedlung in die Schweiz
Erica Pedretti fand Unterschlupf bei einem Bauern, dann bei einem Schuster. Bei beiden musste sie hart arbeiten – und tat es gerne. Sie war ein eigenwilliges, vielseitig begabtes Kind. Sie bewunderte den Grossvater, der ganze Bücher auswendig konnte, zum Beispiel den «Faust». Sie verehrte aber auch den Onkel, der in Paris malte.
Die Familie wurde schliesslich zwangsausgesiedelt. Vorerst ohne ihre Eltern kam Erica Pedretti im Dezember 1945 in die Schweiz, 15-jährig, gerettet, aber unerwünscht, mit einem Rotkreuztransport, in dem auch viele KZ-Überlebende waren.
«Sind Sie immer noch hier?»
Die Ankunft im verschonten Land war ein Schock: Niemand hatte ein offenes Ohr für die traumatisierten Flüchtlinge. Erica Pedretti konnte zwar an der Kunstgewerbeschule in Zürich den Beruf der Silberschmiedin erlernen, aber unter einem «Damoklesschwert»: Die Aufenthaltsbewilligung «zwecks Weiterreise» musste alle drei Monate erneuert werden. Nie vergass sie die wiederkehrende Frage der Fremdenpolizei: «Sind Sie immer noch hier?»
Mit zwanzig emigrierte Erica Pedretti nach New York. Durch die Heirat mit dem Maler Gian Pedretti wurde sie später Schweizerin. Sie lebte mit ihrem Mann und den fünf Kindern erst viele Jahre in Celerina und dann in La Neuveville. Mit vierzig wollte sie nicht länger schweigen, gerade weil sie über das Erlebte kaum sprechen konnte. Sie schrieb ihr erstes Buch.
«Harmloses, bitte»
Es war ein Buch über eine Kindheit im Krieg, über Ängste und den Verlust der Heimat, ein Buch mit dem bezeichnenden Titel «Harmloses, bitte». Nichts an dem Text ist harmlos. Die Vergangenheit ist drohend, die Gegenwart porös, das Erinnern gegen den Strich gebürstet – ein Prozess, der Erica Pedretti immer wichtig war.
So sagte sie einmal: «Ich denke, die Bemühung, etwas darzustellen, sei es nun bildlich oder literarisch, geht bei mir immer davon aus, es anders zu zeigen, als ich es erfahre.» Wahrnehmen, hinterfragen, dabei die grösstmögliche Verunsicherung zulassen – darum ging es Erica Pedretti in ihrem schriftstellerischen und bildnerischen Werk.
Welterfahrung auf dem Prüfstein
Dies zeigt sich auch in dem Roman «Valerie oder das unerzogene Auge» von 1986, in dem sich bildende Kunst und Schreiben verflechten. Das Buch nimmt Bezug auf den Maler Ferdinand Hodler und sein todkrankes Modell Valentine Godé-Darel.
Subtil werden dabei die Rollen vertauscht: Das Modell mit dem laienhaften, also «unerzogenen» Auge beginnt zu zeichnen und legt so, wie dessen Erfinderin, das eigene Sein und die eigene Welterfahrung auf den Prüfstein.