«Dr Unggle Sämi» singt im Schwulenchor Köniz. Dank einem Auftritt des Chors in der Unterhaltungssendung «Teleboy» weiss das die ganze Schweiz. Dass Sämi als einziger im Chor gar nicht schwul ist, glaubt ihm keiner. Auch dem Ich-Erzähler glaubt man das nicht, der als Bub in der Schule gefragt wird, wie es sei, einen schwulen Onkel zu haben.
Dabei ist es ausgerechnet Sämi, der den Erzähler sexuell aufklärt und ihm später, zur Konfirmation, einen Bordellbesuch schenkt. Das ist eine der typischen Verwicklungsgeschichten in Guy Krnetas Buch «Unger üs». Eine der vielen unterhaltsamen Einzelgeschichten in diesem, wie es im Untertitel heisst, «Familienalbum».
«Dr Grossvatter»
In der Tat: «Unger üs» lesen ist ein bisschen wie in einem Foto-Album blättern. Es sind einzelne, abgeschlossene Geschichten über verschiedene Mitglieder derselben Familie. Der jung verstorbene Onkel Sämi ist wichtig für den Buben. Auch der Grossvater, mit dem er nach Grindelwald fährt, um im Chalet nach dem Rechten zu sehen. Aber das Chalet steht nicht mehr an seinem Ort. Später entdeckt es ein anderer Onkel in Saanenmöser – und tatsächlich: Grossvaters Schlüssel passt.
Was ist passiert? Dem Grossvater kommt langsam seine Schweiz abhanden. Seine Heimat stimmt nicht mehr. Die solide, patriarchalische Schweiz, wo man noch weiss, wo Gott hockt: Diese Schweiz geht in der Endphase des Kalten Krieges mehr und mehr verloren.
«D Änkel»
Der Enkel, unser Erzähler, verweigert den Militärdienst und sitzt stattdessen mit Verbrechern seine Gefängnisstrafe ab. Die Enkelin, die elf Sprachen spricht, behauptet, «d Spraach syg kes Deheime». Natürlich, findet der Grossvater: Das ist typisch für eine Generation, die nicht auf dem Waffenplatz stehen musste, damals, als Krieg war.
Eine Schweizer Familie im Umbruch zeichnet Guy Krneta in vielen Einzelaufnahmen, die sich zu einem vagen Gesamtbild fügen. Zusammengehalten werden die Bilder durch die Erinnerungen des Erzählers und durch seine eigene, unglückliche Liebesgeschichte mit einer Peruanerin.
«Dr Zwitter»
Kompositorisch ist «Unger üs» ein Zwitter: Da sind einerseits die eigenständigen Bilder bzw. Geschichten zu den Familienmitgliedern; andererseits die fortlaufende Geschichte des jungen Erzählers. Den «Einzelbildern» spürt man an, dass sie für die Bühne geschrieben und perfektioniert wurden. Sie stehen und wirken für sich – sind witzig, einfallsreich und sprachlich ausgefeilt, oft sehr berührend. Die handlungstragende Geschichte schlängelt sich dazwischen durch, hat einen ganz anderen Duktus, ist nicht auf Pointe geschrieben und weniger geschliffen. Hätte «Unger üs» auch zwei Bücher geben können?
«D Spraach»
Der Berner Guy Krneta lebt seit vielen Jahren in Basel, schreibt aber konsequent Berndeutsch. Vielleicht ist er deshalb weit weg von einem bewahrenden, rückwärtsgewandten Dialekt in seiner Literatur. Sein Berndeutsch klingt fast hyperrealistisch nach Hier und Jetzt: Durchsetzt mit Neubildungen, mit Einflüssen aus dem Standarddeutschen, bei Wörtern und Satzstrukturen.
«So reden ig», bekennt Krneta im Gespräch ganz offen. Und er hat recht: Diese Mischsprache aus verschiedensten Einflüssen ist die Sprachrealität der Deutschschweiz. Ob es einem gefällt oder nicht. Gut lesbar ist diese Sprache auf jeden Fall.