«Wie verrückt», lächelt Junzo Nakajima und lässt seinen Blick über das weite Tal schweifen. «Wie verrückt ist es doch, dass ein Japaner ‹Heidi› verfilmen wollte, und diese Serie weltweit Verbreitung fand.»
46 Jahre sind seit Nakajimas erstem Besuch auf dem Ochsenberg oberhalb von Maienfeld vergangen. Nun sitzt der Filmproduzent mit Chefanimator Yoichi Kotabe und Kayoko Takahata, der Witwe des 2018 verstorbenen «Heidi»-Regisseurs Isao Takahata, auf der Bank vor einer Alphütte, die 100 Jahre zuvor Autorin Johanna Spyri auf Wanderungen mit ihrer Jeninser Freundin Anna von Salis kennengelernt hatte.
Es war 1974, als Isao Takahata gemeinsam mit Hayao Miyazaki und Yoichi Kotabe die Trickfilmserie «Heidi» realisierte. 52 Folgen produzierten die drei Grössen des japanischen Films, es war ein einziger Kraftakt.
Recherchereise in die Schweiz
Die Serie markierte auch für den japanischen Film einen Wendepunkt. Denn obwohl sie ihr «Heidi» animierten, wollten die drei Freunde aus Japan nicht einfach eine Phantasiewelt erfinden, die nichts mit der Realität zu tun hatte.
So besuchten Regisseur Isao Takahata, der für Landschaften und Szenenbild zuständige Hayao Miyazaki und Chefanimator und Characterdesigner Yoichi Kotabe im Sommer 1973 die Schauplätze des Erfolgsromans von Johanna Spyri, der in Japan damals längst zum Kanon der Kinderliteratur gehörte.
«Wir stiegen mehrere Stunden steil bergan», erinnert sich Kotabe, der bis heute eine Schweizer Bahnhofsuhr am Handgelenk trägt. «Es gab damals noch keine ausgebaute Strasse. Und plötzlich entdeckten wir oben am Hang eine Alphütte, die genau gleich aussah wie jene im Roman.»
Neue Herangehensweisen
Die drei «Musketiere» des japanischen Trickfilms, aus deren Feder und Zeichenstift Filme wie «Mein Nachbar Totoro» (1988) oder «Die Legende der Prinzessin Kaguya» (2013) sowie Hunderte Figuren der Videospiele Pokemon und Supermario entstehen sollten, erschlossen mit «Heidi» neue künstlerische Herangehens- und Erzählweisen.
«Heidi nimmt in der Anime-Tradition einen wichtigen Platz ein, weil dank dieser TV-Serie neue Techniken ins Spiel kamen», erklärt Hans Thomsen, Professor für ostasiatische Kunstgeschichte an der Universität Zürich.
Die japanischen Künstler wollten das Leben in den Alpen im 19. Jahrhundert so authentisch wie möglich zeigen, um es erlebbar zu machen, wie Kotabe sagt und im Dokumentarfilm «Heidis Alptraum» anhand von Originalzeichnungen der Serie erläutert. Das ihnen Fremde war dabei besonders wichtig, um dem Publikum neue Welten zu eröffnen.
Kleines Budget, grosse Begeisterung
Dabei war auch für diesen Welterfolg aller Anfang schwer. Auf das Ansinnen, «Heidi» als Trickfilmserie umzusetzen, reagierte der Werbepartner der Serie mit der Bemerkung, er werde auf den Händen die Ginzo-Strasse hinuntergehen, wenn das ein Erfolg werde, erinnert sich Regisseur Takahata 25 Jahre später im Rahmen eines Vortrags.
Ich hatte das Gefühl, die japanische Gesellschaft brauchte Spyris Geschichte.
Entsprechend waren die Produktionsbedingungen. «Die Budgets für die TV-Animationen in Japan waren so klein, dass wir gezwungen waren, mit einer extrem kleinen Zahl von Zeichnungen zu animieren. Wollten wir dennoch qualitativ hochwertige Arbeit leisten, ging das nur dank eines mörderischen Arbeitspensums.»
Das bedeutete, dass sie während eines Jahres wöchentlich 9000 Zeichnungen herstellten. Manche der Mitarbeitenden schliefen sogar vor Ort. So blieb die Produktion der «Heidi»-Serie für alle Beteiligten, von denen danach die meisten bei der Gründung des Studio Ghibli dabei waren, eine bleibende Erfahrung.
«Zurück zur Natur»
Trotz aller Hindernisse: Regisseur Isao Takahata wollte die TV-Serie unbedingt realisieren. Auch aus politischen Gründen, die schon in Johanna Spyris Roman angelegt sind. In Japan zeigten sich Anfang der 1970er-Jahre – genau wie 100 Jahre zuvor, als Spyri in der damals aufstrebenden Industriestadt Zürich lebte – die Schattenseiten des wirtschaftlichen Fortschritts.
Es gab in Japan eine wachsende Bewegung gegen die sichtbarer werdende Umweltzerstörung. «Ich hatte das Gefühl, die japanische Gesellschaft brauchte Spyris Geschichte», sagte Regisseur Takahata einmal. Ihr ganzes Werk hindurch werden er und Hayao Miyazaki die Umweltzerstörung und Entfremdung des Menschen zum Thema machen – so wie auch Johanna Spyri das tat.
Spyri selbst erlebte als junge Frau, die durch Heirat ab 1852 in Zürich lebte, was das bedeutete – und machte den Kontrast zwischen Stadt und Land zum Grundthema ihres «Heidi»-Buchs, wenn auch in eine Kindergeschichte verpackt.
Die Entdeckung der Langsamkeit
Mit ihrer TV-Serie wollten die drei Musketiere des Anime auch künstlerisch Neuland erschliessen. So zum Beispiel: Anstatt die Story mit dramatischen Ereignissen aufzuheizen, wollten sie das Publikum in Heidis Welt mitnehmen.
«Um das zu erreichen mussten wir ein langsames Erzähltempo anschlagen und Heidis Umwelt viel Aufmerksamkeit schenken», sagte Takahata. «Das war damals ungewöhnlich für einen Trickfilm. Ein Drittel der Serie ist der Darstellung des Lebens in den Alpen gewidmet.»
Wenn heute also Tausende von Touristinnen und Touristen aus aller Welt in das kleine Städtchen Maienfeld strömen, suchen sie wohl auch eine Art zweite Heimat, die sie in den 52 Episoden der Serie kennen und lieben gelernt hatten.
Im künstlerischen Austausch
Auf ihrer eigenen Reise in der Schweiz stiessen die Filmemacher auch auf ein Bilderbuch, wie sich Yoichi Kotabe erinnert: das Silva-Buch der Basler Illustratorin Martha Pfannenschmid von 1944, das Generationen von Schweizer Kindern geprägt hat.
«Obwohl es nur kleine Zeichnungen sind, fingen sie all das, was wir auf der Alp gesehen hatten, meisterhaft ein» , erzählt Kotabe im Dokumentarfilm «Heidis Alptraum». «Ich glaube, es ist Miyazaki, der am meisten daraus gezogen hat. Nach seiner Rückkehr nach Japan schaute er sich das Buch stundenlang an.»
Martha Pfannenschmid, die als Gerichtszeichnerin ihr Geld verdiente, war 30 Jahre vor den Japanern nach Maienfeld gereist und mit Spyris Bestseller im Gepäck auf die Alp oberhalb von Maienfeld gestiegen. Spyri selbst kannte die Landschaften von Wanderungen mit ihrer Freundin Anna von Salis aus Jenins, die sie während ihres Welschlandjahres in Yverdon kennen gelernt hatte.
Die Japaner interessierten sich auch für weitere Schweizer Künstler. Die Abendstimmungen am Ende der dritten Episode dürften ein Gruss an Giovanni Segantini sein, dessen Trilogie «La vita. La natura. La morte» sie gesehen hatten, wie Kotabe erzählt.
Erste weibliche Hauptfigur
Martha Pfannenschmid und Isao Takahata gemeinsam ist, dass sie Heidis Geschichte getreu der Vorlage konsequent aus der Perspektive des Waisenmädchens erzählen.
Auch in dieser Hinsicht markiere «Heidi» für das japanische Trickfilmschaffen einen Wendepunkt, sagt Hans Thomsen, der Professor für ostasiatische Kunstgeschichte mit dem Faible für Mangas. «Bis dahin waren die Hauptfiguren durchwegs Jungs oder Roboter. Mit Heidi war erstmals überhaupt ein Mädchen in der Hauptrolle einer Anime-Serie zu sehen.»
Maienfeld wird zum Magnet
Auch das Städtchen Maienfeld hatte sich nach dem Grosserfolg der Trickfilmserie verändert. Die Kraft der Natur und der Figur lockt bis heute Tausende von Fans in den Ort. Sie wollen sehen, «wo Heidi zu Hause ist», wie Rolf Mutzner sagt, der Geschäftsführer des «Heididorfs».
Wegen des japanischen Animes besuchten bis zur Pandemie jährlich 150’000 Menschen aus allen fünf Kontinenten den kleinen Ort auf, der sich bis dahin eher als Weinbaugebiet definierte.
Den anhaltenden internationalen Erfolg, den die Geschichte erlebt, kann man hier in den Augen von Touristinnen und Touristen sehen, die etwa mit dem Titelsong der arabischen Version des japanischen Trickfilms auf ihrem Mobiltelefon durch die Drehkreuze des «Heididorfs» spazieren. Heidi ist zur Pop-Ikone geworden.
Die feinen Unterschiede
Dabei kennen wir die legendäre Serie vielleicht gar nicht so, wie sie 1974 in Japan gedacht und gemacht war. «Die Originalversion lief in Europa nur in Rumänien und Spanien im Fernsehen», sagte «Heidi»-Regisseur Isao Takahata.
Tatsächlich seien die Unterschiede der beiden Versionen beträchtlich, sagt der in Kyoto lehrende japanische Germanist Takashi Kawashima. Während Takahata die Geschichte sehr treu adaptiert hatte (bis hin zu den Kirchenliedern, die Heidi auf Japanisch vorträgt), rezitiert Heidi in der deutschen Version des Trickfilms plötzlich Gedichte von Eduard Mörike.
«So entsteht eine ganz andere Geschichte», sagt Kawashima. «Isao Takahata hat für japanische Zuschauer die Religion nicht weggelassen. Interessant ist, dass das deutsche Publikum davon nichts weiss, weil die deutsch synchronisierte Version diese Kirchenlieder dann wieder komplett weggelassen hat. Man hat das in der deutschen Fassung ganz und gar säkularisiert.»
Schlager statt Jodel
Neben den Dialogen wurde vor allem der Soundtrack in der deutschsprachigen Fassung der Serie komplett geändert. «Zum Beispiel in der Szene, in der Heidi im Zug von Maienfeld nach Frankfurt gebracht wird: In der japanischen Version hat es hier traurige Musik, in der deutschen Version aber lustige Musik», sagt Kawashima.
Die ohrenfälligste Änderung ist der berühmte Titelsong. Während die japanischen Filmemacher auf ihrer Reise in der Schweiz auch Jodel aufnahmen, und Heidi in der japanischen Titelsequenz juchzend zu einem Jodel des Schweizer Frauenduos Schwarz durch die Landschaft hüpft, klingt Heidi auf Deutsch etwas anders. Die Erzählperspektive wechselt vom inneren Glücksgefühl auf einen Aussenblick: «Heidi, Heidi, Deine Welt sind die Berge!»
Verfasst hat die deutsche Titelmusik der Hit-Songschreiber Christian Bruhn, der 1977 gemeinsam mit seiner Frau und Schlagersängerin Erika den Titelsong komponierte – den man nie mehr vergisst, wenn man ihn einmal gehört hat. Das haben ihn viele: allein die LP hat sich im Gefolge der Trickfilmserie selber 20 Millionen Mal verkauft. Der übrige Soundtrack der deutschen Version stammt von Heimatfilm-Routinier Gerd Wilden.
In Heidis Heimat allerdings lebten wir diesbezüglich im Tal der Ahnungslosen. Denn die Trickfilmserie «Heidi », die seit ihrem globalen Erfolg der ganzen Welt die Schweiz bedeutet, ist erstaunlicherweise im Deutschschweizer Fernsehen nicht gelaufen. Doch was nicht ist, kann ja noch werden.