- Die gebürtige Genferin Pascale Kramer erhält den Schweizer Grand Prix Literatur.
- In der Deutschschweiz ist die Autorin weitgehend unbekannt – zu Unrecht, meint ein Kenner.
- Ihre Romane zeichnen den Zusammenbruch von familiären Banden scharf und intensiv nach.
Eine Schweizerin in Paris
Der Reihe nach: Pascale Kramer ist in Genf geboren und hat einen Teil der Schulzeit und des Studiums in Lausanne verbracht. Seit 30 Jahren lebt die heute 56-Jährige in Paris. Das macht sie zu einer französischen und schweizerischen Schriftstellerin: Eine gebürtige Autorin aus der Romandie, die sich von den meisten welschen Autoren dadurch unterscheidet, dass ihre Romane eigentlich keinen Bezug zur Schweiz haben, weder zu einer Landschaft oder einem speziellen Schweizer Thema. Ihre bisher zehn Romane spielen in Frankreichs Vorstädten oder in Kalifornien.
Das Eigene ist zweitrangig
Von vielen französischen Autoren wiederum unterscheiden sich die Romane von Pascale Kramer aber auch. Die eigene Person, die eigene Geschichte in den Mittelpunkt stellen, so wie das viele Pariser Autoren gerne pflegen, interessiert sie nicht. Überhaupt hat sie es nicht mit den französischen Autoren, schon eher mit den amerikanischen oder südafrikanischen.
Thematisch geht es bei Pascale Kramer fast immer um die Familie. Das heisst, um den Ort, wo Erwachsene und Kinder zusammenleben. Ihre Figuren sind nie wichtige, prominente Leute, sondern einfache Menschen, die wenig reden.
Fokus auf Details
Nicht, dass Pascale Kramer ihnen eine Stimme gäbe: sie bleiben fast stumm. Mit wenigen und winzigen Beobachtungen kommen uns die Frauen und Männer ihrer Geschichten immer näher – das macht die Kunst der Autorin aus.
Sie erwähnt etwa ein verwischtes Make-up, einen vollen Aschenbecher am Pool, ein Kleidungsstück, das nicht mehr richtig sitzt. Pascale Kramer ist eine erfahrene Drehbuchautorin, richtet die imaginäre Kamera unerbittlich auf ihre Protagonisten und erzeugt eine schon fast unheimliche und rätselhafte Intensität.
Es sind alles schreckliche Geschichten, die sie uns erzählt und das mag jene von der Lektüre abhalten, die von glücklicheren Menschen träumen möchten, von glücklicheren Menschen als sie selber sind.
Zerstörte Familienbande
Im Buch «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» etwa erzählt sie von einer jungen Mutter, der wir kurzerhand eine postnatale Depression diagnostizieren würden. Die welsche Autorin interessiert diese distanzierte Sichtweise aber nicht. Sie schaut sehr genau hin, zeichnet ganz scharf den inneren Zusammenbruch der desillusionierten Mutter nach und den unaufhaltsamen Zerfall ihrer Welt.
Noch unerträglicher ist das Schweigen im Roman «Die Lebenden», in dem der 17-jährige Benoît den Tod der beiden Kinder seiner Schwester verursacht. Niemand kommt einigermassen unbeschadet aus der Tragödie. Die Selbstzerstörung schleicht sich in die Beziehungen der Eltern zueinander und zu Benoît ein und stürzt alle ins Unglück.
Auch auf Deutsch stimmig
Pascale Kramer stehen unbegrenzt Möglichkeiten zur Verfügung, um Stimmung zu erzeugen. Seelische Erschütterungen im Familienverband, Beziehungen, die fast unbemerkt, aber sicher und hoffnungslos zerfallen.
Vier Romane sind bisher auf Deutsch übersetzt worden – immer grossartig von Andrea Spingler, die auch Marguerite Duras, Patrick Modiano und André Gide ins Deutsche übertragen hat. Man kann also nicht sagen, dass es an Übersetzungen fehlt.
Eine desillusionierende Lektüre
Aber Bücher müssen auch die Leser erreichen, sie berühren – und das ist kein einfaches Geschäft. Pascale Kramer wird wahrscheinlich nie ein breites Publikum erreichen. Das mag daran liegen, dass man einer Illusionszertrümmererin mit etwas Zurückhaltung und Vorsicht begegnet.
Aber ihre minutiöse Prosa ist von der ersten Zeile an einnehmend, sie nimmt alles auf, um die Risse zu zeigen, die sich durch die Familien ziehen. Sie hat sich einen ganz eigenen Stil erarbeitet und ihr Werk ist einzigartig.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktuell, 17.02.2017, 06:50 Uhr