Bei Schweizer Bergen denkt man schnell einmal an Heidi, die mit dem Geissenpeter über die Wiesen springt. Johanna Spyri, die Grande Dame der Schweizer Kinderliteratur, hat ihre Geschichte an Orten spielen lassen, die den Schweizerinnen und Schweizern bestens vertraut sind.
Doch die Kinder- und Jugendliteratur hat sich in den letzten zwanzig Jahren gewandelt. Reale Orte gibt es in der heutigen Kinderliteratur weniger. Der Regenbogenfisch glitzert seit 1992 mit seinen Schuppen weder im Thunersee noch im Rhein, sondern in einem unbekannten Gewässer.
Expeditionen und Panoramen
Solche Entwicklungen zeigt der «Atlas der Schweizer Kinderliteratur» auf, den das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) zu seinem 50-jährigen Jubiläum herausgegeben hat.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lädt der Atlas zu Ausflügen in verschiedene Themengebiete. Es sind Erkundungstouren von Trends in der aktuellen Kinderliteratur, deswegen heisst der Atlas im Untertitel «Expeditionen und Panoramen».
Das Konzept ist so einfach wie überzeugend: Verschiedene Autorinnen und Autoren beleuchten mal wissenschaftlich fundiert, mal persönlich gefärbt ein Thema.
Imaginäre Landkarten
Zu jedem Kapitel hat eine Schweizer Bilderbuchillustratorin, ein Schweizer Kinderbuchgestalter eine imaginäre Landkarte geschaffen. Damit entwirft der Atlas ein Panorama der reichhaltigen zeitgenössischen Illustrationsszene der Schweiz.
Die Leseausflüge führen zu spannenden Erkenntnissen und verorten die Landschaft der Schweizer Kinderliteratur auch global. So erfährt man, dass Veränderungen im Buchmarkt der Grund sind, warum der Regenbogenfisch auch im Gardasee oder in der Themse schwimmen könnte.
Neue Themen für Kinder
«In den letzten Jahrzehnten sind grosse Verlage der Schweiz entweder eingegangen oder nach Deutschland verkauft worden», erklärt Literaturwissenschaftlern Christine Tresch vom SIKJM.
Sie hat den «Atlas» mit herausgegeben. «Schweizer Autorinnen und Autoren publizieren vermehrt in Deutschland und ihre Geschichten mussten losgelöst von Orten funktionieren», sagt Tresch.
Mit den gesellschaftlichen Veränderungen der 1968-er Bewegung kamen auch neue Themen in die Kinderliteratur. «Wer bin ich? Warum bin ich die, die ich bin?» - psychologische Sichtweisen und die Darstellung von emotionalen Innenwelten nahmen die persönliche Entwicklung des Kindes in den Fokus.
Seit einigen Jahren brechen Schweizer Autorinnen und Autoren vermehrt in Fantasiewelten auf. Franz Hohlers «Tschipo» etwa träumt so intensiv, dass er in den Bänden jeweils ganz in der Traumwelt verschwindet.
Anders als bei Fantasy-Literatur müssen die Helden von phantastischer Literatur jedoch nicht die Welt retten, sondern sich selbst finden. «Diese Aufbrüche sind Mut-Geschichten», sagt Christine Tresch. «Man kommt mit dem Alltag nicht klar und kann in einer anderen Welt ausprobieren, wie man stärker wird. Das nimmt man dann mit in die Gegenwart.»
Einseitige Topografie
Hier reiht sich die Schweizer Kinderliteratur in globale Tendenzen ein. Prägend für die heimische Kinderliteratur ist jedoch die Sprache: die Mundart. Vor allem wenn sie performt wird. Trudi Gerster hat bereits 1939 an der Landi Märchen in Mundart erzählt. Eine wichtige Rolle kommt dem Schweizer Radio zu: Es produziert Kinder-Hörspiele.
Seit gut 15 Jahren gibt es in der Schweiz eine starke Spoken-Word-Szene. Pedro Lenz, Stefanie Grob und andere haben Texte für Kinder als CDs eingespielt. «Die Booklets dazu sind auch Kinderliteratur», sagt Literaturwissenschaftlerin Christine Tresch.
Am «Atlas der Schweizer Kinderliteratur» des SIKJM fällt auf, dass die Topografie vor allem auf die Deutschschweiz ausgerichtet ist. Die Romandie, das Tessin und die rätoromanische Schweiz sind marginal vertreten.
Nie endende Entdeckungsreise
Das sei eine weitere, typische Eigenart der Schweiz, erklärt Tresch. Die Literatur richte sich in jeder Sprachregion aufs gleichsprachliche Nachbarland aus. Jede Region habe andere Ästhetiken, Erzählweisen und Handlungsräume. Auf rätoromanisch erschienen nur wenige Werke.
All dies abzubilden hätte den Rahmen der Publikation gesprengt. So bleiben in diesem reichhaltigen Atlas ein paar blinde Flecken. Ganz wie in abenteuerlichen Zeiten sind in Zukunft noch einige Entdeckungsreisen in unbekannte Gebiete der Schweizer Kinderliteratur möglich.