Was tun, wenn Russlands Krieg gegen die Ukraine eskalierte? Wohin sich in Sicherheit bringen, sollte er ganz Europa erfassen? Fertige Fluchtpläne für den Fall der Fälle hat Micha Lewinsky nicht in der Schublade liegen.
Der erfolgreiche Filmemacher und – spätestens seit seinem Kinderbuch «Holly im Himmel» (2022) – ernsthafte Neo-Schriftsteller pflegt sich allerdings en détail vorzustellen, wie es wäre, irgendwo ein neues Leben anzufangen.
Lewinskys Fluchtpunkt ist die Fantasie. Gleichzeitig sagt er: «Aus Zürich komme ich wohl nie ganz weg.»
Nächster Halt: Brasilien
Der Name Lewinsky steht für lebenskluge Leichtigkeit bei durchaus schwergewichtiger Themenlage. Zuletzt hat der vielseitige Filius von Bestseller-Autor Charles Lewinsky in « Moskau einfach! » (2021) den helvetischen Fichen-Skandal zu einer köstlichen Kino-Klamotte verarbeitet.
Jetzt hat Lewinsky einen Roman geschrieben, in dem die Fluchtfrage kein Gedankenspiel bleibt. In «Sobald wir angekommen sind» kriegt ein – Lewinsky nicht unähnlicher – Schreiberling namens Ben Oppenheim plötzlich Panik vor Putin und fliegt mit seiner Ex-Frau und den beiden Kindern nach Brasilien.
Die überstürzte Flucht aus der Schweiz wird sich zur unterhaltsamen Wiederannäherungskrise auswachsen. Nicht einfacher macht es, dass es für Ben mit der zu Hause gebliebenen Geliebten eigentlich lief, besonders im Bett. Learning: Es gibt kein richtiges Liebesleben im falschen.
Weltkriegsangst und weitere Wehwehchen
Es sei eine Befreiung gewesen, «nur» ein Buch zu verfassen und nicht ein Drehbuch, sagt Lewinsky. Keine Finanzierungs-Fragen. Nicht schon beim Schreiben einen Cast im Kopf haben zu müssen. Nicht dauernd Gefühle in Handlung übersetzen – dafür in aller Ruhe in die Köpfe seiner Figuren zu blicken, wo sich viel Verunsicherung findet.
Die Verunsicherung liegt im Falle der Hauptfigur nicht nur an besagter Weltkriegsangst. Sie ist nicht weniger den Wehwehchen eines Mannes mit mittleren Selbstverständnisproblemen und anderen existenziellen Existenzsorgen geschuldet.
Natürlich ist dieses phasenweise filmreife Endspiel im Exil ein Traumsetting für tragikomische Troubles vor tropischer Kulisse – für die eine Schwäche haben wird, wer es dialogstark mag. Da ist aber auch ein doppelter Boden, der Falltüren öffnet und Fallstricke verbirgt.
Für Brasilien haben sich die Oppenheims nicht des Sands wegen entschieden, den sie ohnehin zur Genüge im Getriebe haben. In Brasilien suchte schon ein gewisser Stefan Zweig vor den Nazis Zuflucht. Genau hier schied der Schriftsteller allerdings auch freiwillig aus dem Leben.
Leid und Selbstmitleid
Lewinsky sagt, ihn habe noch nie das nur Komische oder nur Tragische interessiert, sondern die Mischverhältnisse dieser Gemengelage. Dass sein Gegenwarts-Roman zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wurde, habe er nicht auf dem Schirm gehabt, als er sich an den Schreibtisch setzte.
Tatsächlich ist in «Sobald wir angekommen sind» viel von jenem jüdischen Humor zu finden, der um die Geschichte der Flucht weiss, zu der viel erlittenes Leid gehört. Es darf sich hier auch mal als männliches Selbstmitleid äussern.
Fehlt uns noch die Gretchenfrage: Wann kommt «Sobald wir angekommen sind» im Kino an? Er würde diesen Film gern sehen, lächelt Lewinsky: «Vielleicht muss ja nicht ich den drehen.»