5. Monika Helfer: «Löwenherz» (25 Punkte)
Nach «Bagage» und «Vati» legt Monika Helfer ihren dritten autobiografischen Roman über ihre Vorarlberger Familie vor. In «Löwenherz» erinnert sie sich schreibend an ihren Bruder Richard, einen eigenwilligen jungen Mann, der nur dann Verantwortung übernimmt, wenn man sie ihm anträgt. Beispielsweise, wenn ihm eine Jugendliebe urplötzlich ein Kind überlässt, von dem er nur den Spitznamen kennt: Putzi.
«Löwenherz» ist ein inniges Porträt, eine Geschichte über Fürsorge, Schuldgefühle und Familienbande. Ein weiterer Höhepunkt aus Monika Helfers Familienchronologie.
Die Geschichte von Richard, schnörkellos und intim erzählt von seiner Schwester, hat mich gefesselt und tief berührt. Obwohl eher traurig für mich ein absoluter Genuss!»
4. Yasmina Reza: «Serge» (26 Punkte)
Mit «Serge» hat Yasmina Reza eine Auseinandersetzung mit dem Unaussprechlichen geschrieben. Jüdische Geschwister aus Paris besuchen Auschwitz, weil die Familie ihrer Grossmutter dort ermordet wurde. Aber über diesen Ort der Erinnerung, der eigentlich gar nicht mehr existiert, weil er zur Touristenattraktion geworden ist, legen sich die Lappalien und Zänkereien der Geschwister.
Yasmina Reza erzählt elegant und pointiert. Die wahre Erinnerung findet für sie nicht in Gedenkstätten, sondern in der Literatur statt.
Yasmina Rezas Familien- und Geschwisterroman lotet mit glasklarer Schärfe und Raffinesse die Grenzen unserer Erinnerungskultur aus.
3. Yael Inokai: «Ein simpler Eingriff» (30 Punkte)
Ein Spital «korrigiert» mittels Hirnoperationen psychische Auffälligkeiten bei Menschen. In ihrem Roman entwirft Yael Inokai ein dystopisches Szenario, das an ein düsteres Kapitel aus der Geschichte der Psychiatrie erinnert.
Das «System Spital» lässt sich jedoch auch als Versuchsanordnung lesen, um über unsere von Normierungsdruck geprägte Gesellschaft nachzudenken. Und schliesslich erzählt das Buch mit feinsinnig-poetischer Sprache auch eine Liebesgeschichte: Sie bietet einen Ausweg aus gesellschaftlichen Zwängen hin zu Emanzipation und Freiheit.
Yael Inokai setzt Sprache ein wie eine Lupe: als Mittel der Erkenntnis. Präzis erzählt sie von einem dunklen Kapitel der Psychiatriegeschichte, genau und zart von der Liebe zwischen zwei Frauen.
2. Joachim B. Schmidt: «Tell» (39 Punkte)
Aus dem überlieferten Original-Stoff über Wilhelm Tell baut Joachim B. Schmidt einen rasanten Kriminalroman. Tell ist ein hitzköpfiger, grobschlächtiger Bergbauer, der unter einem Trauma leidet. Und der zierlich-elitäre Landvogt Gessler macht Fehler, weil er seinem Vollstrecker Harras zu grosse Entscheidungskompetenz gewährt.
Schmidt zeichnet seine Figuren als Menschen – nicht als Helden – und holt damit den Mythos vom Sockel.
Wie Joachim B. Schmidt uns den Tell-Stoff neu erzählt, ist mutig, überraschend und unterhaltsam.
1. Leta Semadeni: «Amur, grosser Fluss» (44 Punkte)
Leta Semadeni lässt mit poetischer Sprache wie ein Mosaik das Bild einer Liebesbeziehung entstehen: Olga, die bei ihren Grosseltern in einem abgelegenen Bergdorf aufgewachsen ist, verliebt sich in Radu, einen Naturfilmer, der immer unterwegs ist. Die Beziehung der beiden ist geprägt von intensiven Momenten miteinander, aber auch von viel Abwesenheit und Sehnsucht in der Zeit dazwischen.
Die Kapitel im Buch sind kurze Momentaufnahmen aus dieser Beziehung, die Leta Semadeni bildstark und mit viel Feingefühl komponiert hat.
Semadeni erzählt in leuchtenden Sprachbildern von einer grossen Liebe zwischen Nähe und Distanz, vom Ankommen und Abschiednehmen, von Fremdsein und Daheimsein.