5. Dörte Hansen: «Zur See» (18 Punkte)
Dörte Hansen erzählt vom Leben auf einer Nordseeinsel. Die Menschen dort sind einsam, hin- und hergerissen zwischen Heimatverbundenheit und Fluchtimpuls, zwischen Sehnsüchten und Ängsten. Sie arbeiten sich an der Tradition ab, auch am schwierigen Erbe der alten Kapitänsfamilien.
Immer wieder spielt Hansen mit unseren Vorstellungen und Klischees und setzt neue Bilder dagegen. Ein Buch über den gesellschaftlichen Wandel auf der Insel, zugleich Familienroman und eine Studie über Einsamkeit.
Glaubwürdig und packend erzählt Dörte Hansen von Seefahrt, Tourismus und dem Verkauf der Heimat.
4. Alain Claude Sulzer: «Doppelleben» (20 Punkte)
Alain Claude Sulzer widmet sich in seinem neuen Roman «Doppelleben» den beiden Brüdern Goncourt, dank deren «Journal» wir viel über Paris im 19. Jahrhundert wissen. Die Erzählung konzentriert sich auf das Sterben des einen und das Zurückbleiben des anderen Bruders. Zugleich erleben wir das dramatische Leben und Sterben von Rose, der Haushälterin der Goncourts. Sie lebt in Not und Verzweiflung, ohne dass die beiden Schöngeister dies bemerken.
Das Buch öffnet ein Fenster in eine andere Zeit und bringt uns einfühlsam und sprachlich virtuos das Leben und Schaffen des berühmten Brüderpaars näher.
Rasant und feinfühlig erzählt Sulzer von den Brüdern Goncourt und ihrer Haushälterin, die im selben Haus und doch in verschiedenen Welten leben.
3. Franco Supino: «Spurlos in Neapel» (26 Punkte)
Jahre nach dem Tod des Vaters begibt sich der Erzähler, ein Secondo aus der Schweiz, auf Spurensuche in Neapel. Er will endlich die Stadt kennenlernen, deren Sprache er spricht. Bei seinen Erkundungstouren stösst er auf die faszinierende Geschichte eines Migrantenkinds aus Westafrika, das von einem Familienclan der Camorra aufgenommen wird und als Camorrista die Karriereleiter hinaufsteigt. Sein spurloses Verschwinden lässt den Erzähler nicht mehr los.
Franco Supino gelingt ein fesselnder Mix aus Autofiktion, Ermittlungsgeschichte und Liebeserklärung an eine Stadt, in deren DNA die Camorra eingeschrieben ist.
Wie ein Reporter spürt Supinos Erzähler einem verschwundenen Camorrista nach. Ein Kaleidoskop voll menschlicher Wärme und Gewalt.
2. Ingeborg Bachmann und Max Frisch: «Wir haben es nicht gut gemacht» (31 Punkte)
Ingeborg Bachmann und Max Frisch waren eines der glamourösesten Paare der deutschsprachigen Literatur. Sie verband eine Liebe zwischen Bewunderung und Rivalität. Nach vier Jahren endete sie für beide schmerzlich.
Dass die Trennung entgegen der bisher geltenden Meinung auch Frisch fast zerstörte, zeigt jetzt der gemeinsame Briefwechsel. Die insgesamt rund 300 erstmals veröffentlichten Briefe räumen mit dem alten Gerücht auf, Frisch sei mit seinem Verhalten schuld an Bachmanns Tod.
Der eigentliche Zauber diese sorgfältig editieren Briefbands ist aber, wie sich beide als rückhaltlos Liebende zeigen, die alles riskieren, fast alles verlieren – und Worte finden dafür.
Jetzt weiss man genauer, warum die beiden es nicht miteinander aushielten, obwohl sie sich so geliebt hatten. Eine sprachlich beglückende, zutiefst bewegende, ja erschütternde Lektüre.
1. Kim de l’Horizon: «Blutbuch» (60 Punkte)
Die nonbinäre Erzählfigur in «Blutbuch» wendet sich an die demente Grossmutter. Sie ruft Szenen aus der gemeinsamen Vergangenheit hervor. Es geht um Verletzungen, Zurückweisungen, Traumata und um das, worüber Grossmutter und Enkelkind nie miteinander gesprochen haben: die Suche nach dem eigenen Ich.
Wer bin ich, wenn ich mich weder als Mann noch als Frau identifiziere? Wenn ich mich lösen muss von äusseren Zuschreibungen? Kim de l'Horizon bringt das Ringen der Erzählfigur um ihre Identität mit grosser erzählerischer Kraft zum Ausdruck.
Das Buch der Stunde – inhaltlich wie formal.