5. Helga Schubert: «Der heutige Tag» (20 Punkte)
Die deutsche Schriftstellerin Helga Schubert ist 83, ihr Mann 96 Jahre alt – und pflegebedürftig. Schubert kümmert sich zu Hause um ihn, ist rund um die Uhr für ihn da. Von diesem kräftezehrenden Alltag erzählt «Der heutige Tag». Gleichzeitig findet Schubert sehr berührende Worte für die Liebe zu ihrem Mann.
Das Buch ist ein poetisches Abschiednehmen. Anrührend, aber – und das ist der gelungene Balanceakt – an keiner Stelle kitschig.
Das Grossartige an ihren Texten ist, dass sie niemandem mehr etwas beweisen muss. Helga Schubert kann einfach schreiben.
4. Herbert Clyde Lewis: «Gentleman über Bord» (23 Punkte)
Ein erfolgreicher Börsenmakler in der Krise unternimmt Ende der 1930er-Jahre auf einem Frachtschiff eine Pazifik-Reise. Durch ein Missgeschick fällt er über Bord. Das Meer zeigt sich sanft an diesem Tag. So ist der Gentleman überzeugt, dass das Schiff wenden und ihn sogleich retten werde – zu Recht?
In eleganter Sprache formt Herbert Clyde Lewis eine tragikomische Gesellschaftsparabel. Er erzählt von den Zuständen und Entwicklungen, die der Gentleman im Ozean durchläuft. Und vom Reim, den sich die anderen Passagiere auf sein Verschwinden machen. Erschienen 1937, gibt es dieses zeitlose kleine Meisterwerk nun endlich auch auf Deutsch zu entdecken.
Ein ergreifender, aufwühlender und zutiefst menschlicher Roman, der den Protagonisten wie die Leserschaft an existenzielle Grenzbereiche heranführt – und darüber hinaus.
3. Charles Ferdinand Ramuz: «Sturz in die Sonne» (24 Punkte)
Über 100 Jahre alt und trotzdem brandaktuell: 1922 veröffentlichte der Westschweizer Schriftsteller Charles Ferdinand Ramuz den Roman «Présence de la mort». Die Dystopie handelt davon, dass die Erde auf die Sonne zufliegt und in wenigen Tagen verbrennen wird. Die Ernte verdorrt, die Gletscher schmelzen, die soziale Ordnung zwischen den Menschen zerfällt.
Unter dem Titel «Sturz in die Sonne» erscheint der Klimaroman jetzt auf Deutsch: Diese Entdeckung ist eine kleine Sensation – und das Buch der Stunde.
Was tun die Menschen, wenn ihnen das Ende droht? Laut Ramuz halten sie die Beständigkeit der Dinge für so beständig, dass sie sich niemals ändern wird. Ein Satz, dessen Bedeutung weit über den Roman hinausreicht und andeutet, woher das beklemmende Gefühl beim Lesen dieses nachdenklichen Textes rührt.
2. Toni Morrison: «Rezitativ» (27 Punkte)
«Rezitativ» ist die erste und einzige Erzählung der Nobelpreisträgerin Toni Morrison. Sie handelt von zwei Mädchen, die einige Zeit in einem Kinderheim leben und Freundinnen werden. Als die eine das Heim verlässt, verlieren sie sich aus den Augen. Als Erwachsene begegnen sie sich wieder. Doch ihre Erinnerungen an ihre Zeit im Heim gehen auseinander.
In «Rezitativ» spielt Toni Morrison mit der Wahrnehmung der Leserschaft: Wir wissen, dass eines der Mädchen weiss ist und das andere schwarz, allerdings nicht, welches. Beim Lesen ertappt man sich immer wieder dabei, zu überlegen, wer wer ist. Und ist konfrontiert mit dem eigenen stereotypen Denken.
Toni Morrisons Erzählung führt uns auf wenigen Seiten gesellschaftlich relevante und nach wie vor höchst aktuelle Themen vor Augen. In Kombination mit dem Nachwort von Zadie Smith ist «Rezitativ» brillant.
1. Anthony McCarten: «Going Zero» (34 Punkte)
Der Neuseeländer Anthony McCarten entwirft in seinem rasanten Thriller «Going Zero» ein erschreckend realistisches Szenario. Die US-Geheimbehörden schliessen sich zusammen mit der weltweit grössten privaten Datenbank. Alle Verantwortlichen sind überzeugt, dass die nationale Cybersicherheit nur gewährleistet ist, wenn sie Technologien und Daten austauschen. Das gigantische Projekt muss nur noch einen Test bestehen: Zehn Freiwillige tauchen für 30 Tage unter und dürfen keine Spuren hinterlassen. Wenn die Datenkrake die Menschen nicht finden kann, platzt der Deal.
McCarten erzählt die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven: aus der Sicht des Datenbank-Chefs und der einer alleinstehenden Bibliothekarin, die zu den «Zeros» gehört. Damit gelingt ihm der Spagat, ganz nah bei seinen Figuren und ihren Werten zu sein und gleichzeitig den Überwachungskapitalismus zu thematisieren.
McCartens «Going Zero» ist ein gesellschaftskritischer Thriller, der eine zentrale Frage stellt: Was wiegt schwerer, die Freiheit des Einzelnen oder die Sicherheit des Ganzen? Gründlich recherchiert, brillant erzählt und äusserst eindringlich.