5. Katja Petrowskaja: «Das Foto schaute mich an» (14 Punkte)
Seit 2015 schreibt die ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja Foto-Kolumnen. Darin beschreibt sie die Bilder nicht nur, sondern füllt sie mit Geschichten: bekannte Kunstfotografien, Schnappschüsse, Archivbilder, Plattencover, Pressefotos oder Lichtgrafiken. Einen intensiven Moment verwandelt Petrowskaja in Sprache. Persönlich und klug. Ihre Fotokolumnen stellen sich der Frage, woraus die Gegenwart besteht.
Katja Petrowskaja beherrscht die grosse Kunst, ein Bild zu betrachten und lehrt uns, dass Betrachtung auch eine Haltung ist.
4. Patrick Modiano: «Unterwegs nach Chevreuse» (15 Punkte)
Paris in den 1960ern: Der junge Jean Bosmans lernt die kaltblütige und verschlossene Camille kennen, die mit undurchsichtigen Leuten verkehrt. Schon bald ahnt er, dass er instrumentalisiert wird, weil sich Camille und ihre Entourage für etwas interessieren, das in seiner Kindheit geschehen ist.
In diesem schwerelosen Paris-Roman geht es Modiano einmal mehr um die Kraft der Erinnerung: Wie man sich erinnert und welche Bedeutung Erinnerungen haben – und dass sie ein Rettungsanker im Meer des Vergessens sein können.
Patrick Modiano kann süchtig machen. Dieses Schwebende! Ich fühle mich in eine andere Welt versetzt, in der Traum und Wirklichkeit verschwimmen und die Zeit stehen bleibt.
3. Nino Haratischwili: «Das mangelnde Licht» (16 Punkte)
Georgien in den 1990er Jahren: Keto, Dina, Ira und Nene wachsen im Schatten des Bürgerkriegs auf. Sie werden Zeuginnen von Gewalt und Verrohung. Zeuginnen jener entscheidenden Momente, in denen Menschen zu Bestien werden oder eben nicht, indem sie trotzdem als Menschen handeln. Diese Erfahrungen hinterlassen im Leben der vier Freundinnen tiefe Narben. Doch ihre Freundschaft gibt ihnen Halt.
Nino Haratischwili verbindet die vier Einzelschicksale mit den historischen Begebenheiten so gekonnt, dass die georgisch-russischen Verhältnisse von damals erlebbar werden. Bezüge zur aktuellen Situation in der Ukraine drängen sich geradezu auf.
Mit Zärtlichkeit erzählt Haratischwili vom selbstbestimmten Weg von vier Freundinnen durch eine Welt aus nackter Gewalt und brüchiger Männlichkeit.
2. Alex Capus: «Susanna» (25 Punkte)
In «Susanna» erzählt der Schweizer Erfolgsautor Alex Capus das turbulente Leben der Basler Malerin Susanna Faesch. Sie kommt 1844 zur Welt und wandert als Achtjährige mit der Mutter nach New York aus. Dort wird sie Porträtmalerin und mausert sich später zu einer Vertrauten des Indigenen-Häuptlings Sitting Bull.
Den atemberaubenden Plot vermittelt Alex Capus sprachlich elegant und mit atmosphärisch dichten Schilderungen, die Einblicke vermitteln in das Leben eines selbstbestimmten Frauenschicksals im 19. Jahrhundert.
Mit seinem Gespür für historische Stoffe bringt Alex Capus die Vergangenheit zum Leuchten.
1. Thomas Hürlimann: «Der rote Diamant» (33 Punkte)
Im Herbst 1963 wird Arthur Goldau von seinen Eltern in ein Innerschweizer Klosterinternat geschickt. Dort geht er als «Zögling 230» auf abenteuerliche Schatzsuche nach dem berühmt-berüchtigten roten Diamanten der untergegangenen K.-u.-k.-Monarchie.
Tiefgründig, böse, spannend und komisch zugleich schildert Hürlimann, der selbst Zögling im Kloster Einsiedeln war, den langsamen Untergang der katholischen Internatswelt und den neuen Wind, der durch die Welt weht. Ein Internats-, Abenteuer- und Kriminalroman, der Zusammenbruch, Umbruch und Aufbruch in einen grossen philosophischen Zusammenhang stellt.
Ein schillerndes Juwel der zeitgenössischen Literatur!