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Generation Social Media: «Tick Tack» von Julia von Lucadou
Aus Literaturclub: Zwei mit Buch vom 03.06.2022. Bild: SRF / Oscar Alessio
abspielen. Laufzeit 28 Minuten.

TikTok-Thriller «TickTack»: Plötzlich das Schätzchen von Spinnern

Eine Schülerin verirrt sich in einer TikTok-Bubble: Der neue Roman von Julia von Lucadou seziert die gefährliche Mechanik digitaler Gegenwelten.

Sie ist 15, Schülerin eines Elite-Gymnasiums bei Bonn und leidenschaftliche TikTokerin: Mette, die Hauptfigur im zweiten Roman der deutschen Autorin Julia von Lucadou.

«TikTok ist ein organisches Add-on meines natürlichen Existenzmodus, evolutionär gesprochen», sagt Mette. Ja, sie ist etwas altklug. Aber das ist wohl nicht ungewöhnlich für ihr Alter. Tatsächlich verbringt sie jede freie Minute auf der chinesischen App. Scrollt sich durch den Feed mit den für TikTok typischen Kurzfilmchen. Und lädt zwischendurch eigene hoch. 

Julia von Lucadou bei «Ansichten»

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Mehr zu lesen und zu hören über Julia von Lucadou gibt's auf der SRF-Literaturplattform «Ansichten».

Verunsicherte Teenager-Existenz

Mette gibt sich schnoddrig-cool. Begehrt auf gegen Eltern und Lehrpersonen. Für angeblich «angepasste» Altersgenossinnen hegt sie Hohn und Spott. Wider den Mainstream! Das ist ihr Lebensmotto. 

Doch Mette ist auch zutiefst verunsichert. Sie leidet an ihrem Übergewicht. Sehnt sich nach Anerkennung, Zuneigung und nach Bestätigung. Die sucht sie auf TikTok in der Zahl ihrer Follower. Doch die will nicht recht wachsen. 

Aus pubertärem Frust wirft sie sich vor eine U-Bahn. Sie hat ihre Tat auf TikTok angekündigt. Unbekannte retten sie im letzten Moment.

In den Fängen eines Hackers 

Dennoch wird ihr der über Social Media verbreitete Suizid-Versuch zum Verhängnis. Ein zehn Jahre älterer Hacker namens Jo wird auf sie aufmerksam. Ein bleichgesichtiger Desperado und Studienabbrecher.

Jo hängt verquasten Verschwörungstheorien an. Sein vom pausenlosen Bildschirm-Konsum vernebeltes Hirn ist voll von diesen abstrusen Geschichten. Überall wittert er Überwachung, verdeckte staatliche Kontrolle, von dunklen Mächten manipulierte Informationen. Und er sieht sich selbst als «Krieger im Kampf für die Wahrheit».

Gespräch mit Julia von Lucadou über «Tick Tack»

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SRF: Was hat Sie gereizt, die Mechanismen der Social Media zum Thema Ihres neuen Romans zu machen?

Julia von Lucadou: Am Anfang stand ein Bekannter, eine sehr intelligente Person, der Verschwörungstheorien anhing. Für mich war das hanebüchen. Ich wurde regelrecht aggressiv, wenn ich hörte, was er erzählte. Und ich fragte mich, wie kann es dazu kommen? «Tick Tack» war für mich ein Weg, nach Antworten zu suchen.

Haben Sie Antworten gefunden?

Ich habe festgestellt, dass sich die Inhalte von Verschwörungstheorien immer wieder ändern. Aber es hat sie immer gegeben. Sie sind etwas Urmenschliches.

Woran liegt das?

Vermutlich an Verunsicherung und Verletzlichkeit. Und an der Unfähigkeit, einen produktiven Umgang damit zu finden. Das Verführerische von Verschwörungstheorien ist das Schwarz-Weiss-Bild, das sie anbieten. Es gibt klare Helden und klare Gegener. Und man kann selbst zum Helden werden im Kampf gegen das angeblich Böse. Dies bricht die Widersprüchlichkeit der Welt gerade in Krisenzeiten auf ein paar wenige Basispunkte herunter und schafft eine – wenn auch trügerische – Überschaubarkeit.

Weshalb durchschaut Ihre an sich hoch intelligente Figur Mette diesen Mechanismus nicht und lässt sich als Instrument von Jos dunklen Absichten missbrauchen?

Sie steckt in einer pubertären Krise. Hinzu kommt, dass sie in einer Welt lebt, in der für sie als Jugendliche der Erfolg auf Social Media enorm wichtig ist. Jo holt sie genau da ab: Er gaukelt ihr vor, dass sie beide auf derselben Wellenlänge seien mit ihrer Kritik am «Mainstream». Dass sie zwei besondere Menschen seien, die verstanden hätten, wie manipuliert die Gesellschaft ist. Und dass sie via TikTok nun gemeinsam gegen dieses Übel vorgehen könnten.

Sind die Sozialen Medien eine Gefahr für unsere freiheitliche Gesellschaft?

Das Problem sind nicht die Sozialen Medien an sich, sondern unser Umgang damit. Es geht darum, ein kritisches und distanziertes Verhältnis zu ihnen aufzubauen und sie dann positiv zu nutzen.

Das Gespräch führte Felix Münger

Jo erkennt Mettes Potenzial, aus ihr eine «Anti-Greta» zu machen: gegen das vermeintliche «Gutmenschentum». Die Corona-Pandemie bricht aus: Maskenpflicht und Massenimpfungen. Jo verspricht Mette, sie nun auf TikTok ganz gross herauszubringen.

In zahllosen Kurzfilmen stilisiert er sie zur Kreuzritterin gegen allen «Mainstream» und gegen die angeblich von langer Hand gesteuerte Pandemie-Hysterie. Flüstert ihr Kommentare über den vermeintlichen «Zwangsstaat» ein: Aufruf zu Massendemos. Gewalt gegen Reichstag und Impfzentren. Mettes Follower-Zahlen und Likes explodieren. 

Julia von Lucadou als Zeitdiagnostikerin

Mit ihrem zweiten Roman «Tick Tack» erweist sich Julia von Lucadou erneut als Autorin, die sich intensiv mit aktuellen technologischen Entwicklungen auseinandersetzt. In ihrem viel beachteten Debüt «Die Hochhausspringerin» von 2018 schilderte sie eine durch und durch ökonomisierte dystopische Gesellschaft, in der Algorithmen die Menschen zu Höchstleistungen zwingen.

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«Die Hochhausspringerin» von Julia von Lucadou
aus 52 Beste Bücher vom 07.10.2018. Bild: Christian Werner
abspielen. Laufzeit 37 Minuten 43 Sekunden.

Nun also Social Media. Julia von Lucadou verteufelt sie nicht. So schildert sie etwa die grossen Möglichkeiten, die TikTok und Co. gerade für Jugendliche bieten, ihre Kreativität auszuleben.

Aber im Kern geht es um die Gefahr für Gesellschaften, wenn Menschen zu Gefangenen ihrer Bubble werden und den Bezug zur Realität zu verlieren. Und sich dadurch aus dem Common Sense verabschieden, der die Grundlage einer jeden liberalen Demokratie ist.

Die Nominierten für den Schweizer Buchpreis 2018
Legende: Julia von Lucadou (rechts) wurde 2018 für den Schweizer Buchpreis nominiert, gewonnen hat ihn damals Peter Stamm (2. von links). KEYSTONE/Peter Schneider

Ein Roman im Netzjargon

Während in der «Hochhausspringerin» eine der dort geschilderten gläsernen Welt angepasste kalte Sprache dominierte, greift die Autorin dieses Mal den in Posts, Blogs und Kommentaren verbreiteten Internet-Jargon auf: kurze Sätze, Anglizismen und Memes, die nicht als Bilder sondern als kurze Codes dargestellt sind.

Diese Sprache gibt dem Roman seinen adäquaten Sound. Allerdings ist sie gewöhnungsbedürftig, vor allem für die etwas ältere Leserschaft: Sie versteht wohl kaum alles. Aber das muss sie gar nicht. Das Geschilderte bleibt verständlich. Und packend bis zum fulminanten Finale.

Buchhinweis

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Julia von Lucadou: «Tick Tack». Hanser, 2022.

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Radio SRF 2 Kultur, Literaturclub: Zwei mit Buch, 03.06.2022, 14:01 Uhr

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