Sie ist 15, Schülerin eines Elite-Gymnasiums bei Bonn und leidenschaftliche TikTokerin: Mette, die Hauptfigur im zweiten Roman der deutschen Autorin Julia von Lucadou.
«TikTok ist ein organisches Add-on meines natürlichen Existenzmodus, evolutionär gesprochen», sagt Mette. Ja, sie ist etwas altklug. Aber das ist wohl nicht ungewöhnlich für ihr Alter. Tatsächlich verbringt sie jede freie Minute auf der chinesischen App. Scrollt sich durch den Feed mit den für TikTok typischen Kurzfilmchen. Und lädt zwischendurch eigene hoch.
Verunsicherte Teenager-Existenz
Mette gibt sich schnoddrig-cool. Begehrt auf gegen Eltern und Lehrpersonen. Für angeblich «angepasste» Altersgenossinnen hegt sie Hohn und Spott. Wider den Mainstream! Das ist ihr Lebensmotto.
Doch Mette ist auch zutiefst verunsichert. Sie leidet an ihrem Übergewicht. Sehnt sich nach Anerkennung, Zuneigung und nach Bestätigung. Die sucht sie auf TikTok in der Zahl ihrer Follower. Doch die will nicht recht wachsen.
Aus pubertärem Frust wirft sie sich vor eine U-Bahn. Sie hat ihre Tat auf TikTok angekündigt. Unbekannte retten sie im letzten Moment.
In den Fängen eines Hackers
Dennoch wird ihr der über Social Media verbreitete Suizid-Versuch zum Verhängnis. Ein zehn Jahre älterer Hacker namens Jo wird auf sie aufmerksam. Ein bleichgesichtiger Desperado und Studienabbrecher.
Jo hängt verquasten Verschwörungstheorien an. Sein vom pausenlosen Bildschirm-Konsum vernebeltes Hirn ist voll von diesen abstrusen Geschichten. Überall wittert er Überwachung, verdeckte staatliche Kontrolle, von dunklen Mächten manipulierte Informationen. Und er sieht sich selbst als «Krieger im Kampf für die Wahrheit».
Jo erkennt Mettes Potenzial, aus ihr eine «Anti-Greta» zu machen: gegen das vermeintliche «Gutmenschentum». Die Corona-Pandemie bricht aus: Maskenpflicht und Massenimpfungen. Jo verspricht Mette, sie nun auf TikTok ganz gross herauszubringen.
In zahllosen Kurzfilmen stilisiert er sie zur Kreuzritterin gegen allen «Mainstream» und gegen die angeblich von langer Hand gesteuerte Pandemie-Hysterie. Flüstert ihr Kommentare über den vermeintlichen «Zwangsstaat» ein: Aufruf zu Massendemos. Gewalt gegen Reichstag und Impfzentren. Mettes Follower-Zahlen und Likes explodieren.
Julia von Lucadou als Zeitdiagnostikerin
Mit ihrem zweiten Roman «Tick Tack» erweist sich Julia von Lucadou erneut als Autorin, die sich intensiv mit aktuellen technologischen Entwicklungen auseinandersetzt. In ihrem viel beachteten Debüt «Die Hochhausspringerin» von 2018 schilderte sie eine durch und durch ökonomisierte dystopische Gesellschaft, in der Algorithmen die Menschen zu Höchstleistungen zwingen.
Nun also Social Media. Julia von Lucadou verteufelt sie nicht. So schildert sie etwa die grossen Möglichkeiten, die TikTok und Co. gerade für Jugendliche bieten, ihre Kreativität auszuleben.
Aber im Kern geht es um die Gefahr für Gesellschaften, wenn Menschen zu Gefangenen ihrer Bubble werden und den Bezug zur Realität zu verlieren. Und sich dadurch aus dem Common Sense verabschieden, der die Grundlage einer jeden liberalen Demokratie ist.
Ein Roman im Netzjargon
Während in der «Hochhausspringerin» eine der dort geschilderten gläsernen Welt angepasste kalte Sprache dominierte, greift die Autorin dieses Mal den in Posts, Blogs und Kommentaren verbreiteten Internet-Jargon auf: kurze Sätze, Anglizismen und Memes, die nicht als Bilder sondern als kurze Codes dargestellt sind.
Diese Sprache gibt dem Roman seinen adäquaten Sound. Allerdings ist sie gewöhnungsbedürftig, vor allem für die etwas ältere Leserschaft: Sie versteht wohl kaum alles. Aber das muss sie gar nicht. Das Geschilderte bleibt verständlich. Und packend bis zum fulminanten Finale.
Ein Podcast über Bücher und die Welten, die sie uns eröffnen. Alle zwei Wochen tauchen wir im Duo in eine Neuerscheinung ein, spüren Themen, Figuren und Sprache nach und folgen den Gedanken, welche die Lektüre auslöst. Dazu sprechen wir mit der Autorin oder dem Autor und holen zusätzliche Stimmen zu den Fragen ein, die uns beim Lesen umgetrieben haben. Lesen heisst entdecken. Mit den Hosts Franziska Hirsbrunner/Katja Schönherr, Jennifer Khakshouri/Michael Luisier und Felix Münger/Simon Leuthold. Mehr Infos: www.srf.ch/literatur Kontakt: literatur@srf.ch
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