5. Sibylle Berg: «RCE» (22 Punkte)
Die jugendlichen Computer-Nerds aus Sibylle Bergs letztem Roman «GRM» sind erwachsene IT-Spezialisten und Hacker geworden. Wiedervereint wollen sie dem Kapitalismus – den Banken, Tech-Riesen und unermesslich Reichen – mit raffiniert programmierten «Remote Code Executions» den Stecker ziehen und einen Neustart erzwingen.
Denn die Welt ist eine hoffnungslose geworden. Klimawandel und Digitalisierung haben die Menschheit an den Rand des Abgrundes gebracht. Städte sind verwaist. Es gibt keine Geschäfte mehr, aber auch keine Bettler, keine Dealer, keine Proteste, keinen Schmutz. Alles ist bis in den letzten Winkel digitalisiert und kontrolliert.
RCE liegt in der Hand wie ein Pflasterstein, den man gar nicht werfen muss, weil er uns eh trifft. Falls wir untergehen, dann bitte mit der Eloquenz von Sibylle Berg.
4. Fatma Aydemir: «Dschinns» (24 Punkte)
Istanbul in den 1990er-Jahren: Hüseyin, 59, stirbt in einer 3-Zimmer-Wohnung. Ausgerechnet jetzt, wo er sich nach 30 Jahren Schufterei in einer Metallfabrik in Deutschland seine eigenen vier Wände in der alten Heimat leisten kann.
Die ganze Familie reist überstürzt zu seiner Beerdigung an. In der engen, stickigen Wohnung treffen Ehefrau, Töchter und Söhne aufeinander. Die Emotionen gehen hoch. Alle sind überfordert, alle haben miteinander Rechnungen offen.
Vor allem aber: Alle gehen völlig unterschiedlich mit den Geistern der Vergangenheit – den Dschinns ihrer Familie – um. Ein intensiver, grossartig erzählter Gefühlsroman über Trauer, Einsamkeit und die Schwerkraft einer Familie, in der sich unausgesprochene Wahrheiten verbergen.
Eine vielschichtige, psychologisch starke Familiengeschichte, in der es nicht zuletzt darum geht, dass man in sein eigenes Herz schauen sollte, um zu wissen, wer man ist. Denn nur wenn man das weiss, kann man einander vergeben.
3. Rebekka Salm: «Die Dinge beim Namen» (27 Punkte)
1984 in einer Winternacht: Sandra, 16, wird vom gleichaltrigen Max vergewaltigt. Im 500-Seelen-Dorf hat jede und jeder eine eigene Version dieses sexuellen Übergriffs mit Kindsfolge im Kopf – auch 35 Jahre später. Der Vollenweider zum Beispiel hat damals aus der Ferne zugeschaut, ohne einzugreifen. Um sein Gewissen zu erleichtern, will er nun Sandras Geschichte veröffentlichen.
Das bringt Unruhe ins Dorf. Denn «manchmal war eine Geschichte komplexer als die Geschichten, die man sich darüber erzählte, es erahnen lassen würden». Rebekka Salm nennt die Dinge beim Namen. Ihr Debüt ist pointiert und von der ersten bis zur letzten Seite hochspannend.
Ein dörflicher Mikrokosmos, in dem sich die ganze grosse Welt spiegelt.
2. Michael Fehr: «Hotel der Zuversicht» (28 Punkte)
Michael Fehrs Geschichten bringen Alltägliches und Absurdes zusammen. Immer wieder kommen fantastische Elemente vor: Traum- oder Albtraumhaftes, bei dem wir uns bald fragen, wo in diesen Geschichten eigentlich die Grenzen zwischen Schein und Sein verlaufen.
Fehrs Geschichten verhandeln Momente des Menschseins, die wir alle kennen: Zwischenmenschliche Beziehungen oder unseren Umgang mit ungewohnten Situationen. Die Fantastik wirkt dabei wie ein Scheinwerfer, der das, was wir sonst für «normal» halten, in anderem Licht erscheinen lässt.
Michael Fehr erzählt 46 skurrile Kurzgeschichten. Ihren Humor gewinnen die musikalischen, farbkräftigen und expressiven Texte dadurch, dass das Abstruse geschildert wird, als wäre es das Normalste von der Welt – und umgekehrt.
1. Julia Weber: «Die Vermengung» (30 Punkte)
Die Autorin arbeitet an ihrem zweiten Roman, als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger wird. Doch woher Kraft und Zeit nehmen für Kinder, das Schreiben, Freundschaft und Eigenleben? Um diese Fragen dreht sich Julia Webers sehr persönlicher Roman, der erlebbar macht, wie überfordernd eine solche Situation sein kann.
Gekonnt lässt die Autorin darin die Grenzen zwischen Lebensrealität und Fiktion zunehmend verschwimmen: Das Leben und die Kunst gehen nicht aneinander vorbei, sondern durcheinander hindurch.
«Ein persönliches und berührendes Buch voller Poesie und Feinsinn, in das man sich gern verstricken lässt.»