Montagabend, 14. Dezember 1914 im grossen Saal des Zunfthauses zur Zimmerleuten in Zürich. Carl Spitteler aus Luzern hält eine Rede.
Der knapp 70-jährige Carl Spitteler zählt damals zu den bekanntesten deutschsprachigen Schriftstellern. Er ist eine eindrückliche Erscheinung: graue Haare, furchige Stirn, markante Nase, Vollbart.
«Wir müssen uns klar machen, was wir wollen», ruft er in den Saal. «Wollen wir oder wollen wir nicht ein schweizerischer Staat bleiben?»
Die zerrissene Schweiz
Viereinhalb Monate zuvor ist der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Die kriegsführenden Staaten überbieten sich gegenseitig mit nationalistischem Getöse.
Es gilt, näher als bisher um die eidgenössische Fahne zusammenzurücken.
Die Schweiz bleibt zwar verschont. Doch im Innern brodelt es: Ein tiefer Graben, le fossé, durchzieht das Land. Die Romandie hält mehrheitlich zu Frankreich, die Deutschschweiz zum Deutschen Reich.
Gemüter beruhigen
Die Zeitungen diesseits und jenseits der Saane übernehmen die Propaganda der jeweiligen Kriegsparteien und werfen sich gegenseitig eben diese Parteinahme vor – als Gefährdung der Neutralität.
Auf Einladung der staatsbürgerlich-patriotischen Organisation «Neue Helvetische Gesellschaft» entschliesst sich Spitteler, eine Rede zu halten. Sie soll die Gemüter beruhigen.
Die ganze Rede von Carl Spitteler, 14. Dezember 1914
Der Auftritt ist eine Ausnahme: Spitteler ist mit öffentlichen politischen Äusserungen sehr zurückhaltend.
Distanz wahren
Nun beschwört er eindringlich die aussenpolitische Neutralität: «Es gilt, näher als bisher um die eidgenössische Fahne zusammenzurücken.»
Die Westschweiz solle sich davor hüten, «sich zu nahe an Frankreich zu gesellen». Die Deutschschweizer warnt er vor zu grosser Nähe zum kulturell und wirtschaftlich eng verbundenen Deutschen Reich.
Kritik an der deutschen Kriegsführung
Gerade Deutschland habe sich in diesem Krieg schändlich verhalten, als es beim Vorstoss gegen Westen das neutrale Belgien überfiel und im Nachhinein dafür den Belgiern die Schuld zu geben versuchte.
Die Schweiz müsse in Anbetracht der europäischen Katastrophe abseits bleiben und «demütig» den Hut ziehen. «Dann stehen wir auf dem richtigen, neutralen, dem Schweizer Standpunkt.»
Die Zeitungen verbreiten Spittelers Rede. Im hysterischen Klima jener Tage nehmen insbesondere die deutschen Blätter Spitteler dessen scharfe Kritik am deutschen Überfall auf Belgien übel.
Sie stilisieren Carl Spitteler zum Deutschenfeind und verwerfen schon bald auch Spittelers literarisches Werk. Seine Bücher verschwinden für Jahre aus dem deutschen Buchhandel.
Auch im fernen Stockholm erfährt man von der Aufregung. Carl Spitteler ist damals in der engsten Wahl für den Literaturnobelpreis. Er wird ihn noch nicht erhalten. Ein Grund ist die Polemik um seine Zürcher Rede.
Kein Ende des inneren Zanks
In der Schweiz bewirkt die Rede wenig. Le fossé, der Graben, schliesst sich erst gegen Kriegsende.
Und so bleibt «Unser Schweizer Standpunkt» nicht als Rede in Erinnerung, in welcher ein grosser Dichter Kraft seines Wortes das Vaterland gerettet hat. Aber sie wird zum markanten historischen Zeugnis jener schweren Zerreissprobe, in welche die Schweiz durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs geraten ist.