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100. Todestag Carl Spitteler Der Schweizer Nobelpreisträger, den niemand kennt

Carl Spitteler bekam 1919 als erster Schweizer den Literaturnobelpreis verliehen. Und doch geriet der Schriftsteller fast in Vergessenheit. Was lief schief?

Carl Spitteler schrieb Novellen und Romane – und er dichtete: zum Beispiel das mächtige Epos «Olympischer Frühling». 600 Seiten, 20'000 Verse in Alexandrinerreimen.

«Das ist sehr schwer zu lesen», sagt der Berner Publizist und Literatur-Spezialist Fredi Lerch. Spittelers Texte waren anspruchsvoll und elitär – und damit für die breite Masse ungeeignet.

Das sei sicher ein Grund, warum Spitteler heute kaum gelesen werde, so Lerch. Der wahre Grund aber, mutmasst der Experte, liege im «Spitteler-Streit»: in der Auseinandersetzung über die Deutungshoheit und in der Frage, wer denn nun Spittelers Werke herausgeben dürfe.

Eine Hauptrolle im «Spitteler-Streit» spielt Jonas Fränkel, ein Germanist. Er und Carl Spitteler lernen sich 1909 kennen. Spitteler ist 60 Jahre alt, Fränkel 30. Lerch beschreibt das Verhältnis der beiden als «sehr eng, sehr herzlich und vertrauensvoll». Fränkel wird Spittelers rechte Hand.

Wo ist das Testament?

Fränkel hätte später das Gesamtwerk editieren, die Biografie schreiben und nach Spittelers Tod den Nachlass betreuen sollen. Doch das Ganze hat einen Haken. Als Carl Spitteler 1924 in Luzern stirbt, hinterlässt er kein Testament.

Er hat zwar mündlich und in Briefen kundgetan, wen er sich als literarischen Nachlassverwalter wünscht: Jonas Fränkel. Doch dieser Fränkel ist Jude und polnischer Abstammung – und das ist in der Schweiz der 1930er-Jahre ein Problem.

Die Nachkommen und der Nachlass

Als zu Beginn des Zweiten Weltkriegs die Nachfrage nach Nationaldichtern auch in der Schweiz steigt, will man nichts dem Zufall überlassen. Und Spitteler schon gar nicht einem Juden.

Mann und Frau in historischer Kleidung auf einem Steg am See.
Legende: Spaziergang an der Alster: Carl Spitteler an der Seite seiner Tochter Anna in Hamburg (1908). Nachlass Carl Spitteler, Schweizerisches Literaturarchiv Bern

«Ungefähr 1927 hatte Fränkel ein fertiges Konzept für eine Werkausgabe und eine weit entwickelte Biografie», sagt Fredi Lerch. Aber als die Töchter Spittelers den Nachlass ihres Vaters erben, untersagen sie Fränkel den Zutritt zu den Dokumenten Spittelers.

Schlagabtausch um Spitteler

Von da an fängt auch Fränkel an, sich querzustellen. Der «Spitteler-Streit» entbrennt – ein Schlagabtausch, der über Jahre hinweg im Feuilleton der deutschsprachigen Zeitungen abgebildet wurde.

Schliesslich schenken die Töchter Spittelers den Nachlass der Eidgenossenschaft. Philipp Etter, der damalige Bundesrat des EDI und damit Kulturminister, beauftragt drei Schweizer Philologen und Professoren, eine Gesamtausgabe der Werke Spittelers zu veröffentlichen.

Doch die Edition, deren erster Band 1945 erscheint, wird ein Flopp. «Die Leser hatten durch die Vorgeschichte von Spitteler die Nase voll», meint Spitteler-Experte Lerch.

Versöhnliches Ende

Die angedachte Spitteler-Edition und Biografie von Jonas Fränkel werden nie veröffentlicht. Lange bleibt Fränkels Nachlass privat – in den Händen seines jüngsten Sohnes. Bis 2019 ist jeder Zugang zum Nachlass verwehrt.

Erst die Urenkelin Fränkels bietet den Nachlass dem Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) an, das eine Institution der Schweizerischen Nationalbibliothek ist. 2021, ein gutes halbes Jahrhundert nach Fränkels Tod, wird das Material schliesslich für die Forschung zugänglich: Das SLA übernimmt den Nachlass.

Dass der publizistisch literarische Nachlass von Fränkel nun gesichtet und ausgewertet werden kann, ist ein grosser Gewinn für die Literaturwissenschaft. Durch die Forschung, die aktuell betrieben wird, werden wir besser wissen, wer Spitteler «wirklich» war.

Transparenzhinweis

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Dieser Artikel wurde bereits 2019 publiziert.

Jonas Fränkels Nachlass war 2019 noch nicht zugänglich für die Forschung. Änderungen im Artikel sind Aktualisierungen zu diesem Aspekt.

Radio SRF 2 Kultur, 27.12.2024, 8:15 Uhr ; 

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