Robert Macfarlanes Reise unter die Erde raubt einem immer wieder den Atem. Dann zum Beispiel, wenn er mit zwei jungen Menschen in die Pariser Katakomben hinuntersteigt.
Mehrere Tage lässt er sich durch dieses dunkle und feuchtkalte Labyrinth führen, das einst Steinbruch und Beinhaus war.
Klaustrophobische Zustände
Er watet durch überflutete Tunnel, er kriecht, zwängt sich durch enge Passagen, windet sich durch 40 Zentimeter hohe Stollen. Die Decke ist so niedrig, dass er seinen Kopf immer wieder seitwärts drehen muss.
Zentimeterweise Bewegungen, wurmhaftes Winden, Vorschieben mit Schultern und Fingerspitzen. Wie lange geht das noch so? Grauenhaft der Gedanke, weiterzumüssen. Noch schlimmer, umzudrehen.
Der Kalksteinstein, der Macfarlane umgibt, scheint ihm zum Sarg zu werden.
Macfarlanes klaustrophobische Zustände übertragen sich unmittelbar auf die Lesenden. Man ist heilfroh, nicht selbst durch diese engen Gänge robben zu müssen.
Autonome Zone
Während seiner mehrtägigen Expedition trifft der britische Naturschriftsteller illegale Nutzer der Pariser Katakomben. Für die «Cataphiles» ist das 300 Kilometer lange Stollenlabyrinth eine autonome Zone, die Raum bietet für eine Subkultur.
Seit 1955 versucht eine spezielle Polizeitruppe, die schnell den Spitznamen «Cataflics» erhielt, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Ohne Erfolg.
Oben die Reichen, unten die Armen
In den Katakomben wird Macfarlane nachdenklich: Ihm kommen die Obdachlosen von Las Vegas in der Sinn, die in den unterirdischen Regenkanälen Unterschlupf finden und dabei riskieren, von einem Blitzregen weggespült zu werden. Oder die indischen Tagelöhner, die Tag für Tag in die Abwasserkanäle mit den giftigen Gasen steigen, um diese zu reinigen.
In den Städten scheint der Reichtum nach oben zu streben, während die Armut absinkt. «Das Unterland ist elementar für die materiellen Strukturen unserer heutigen Existenz, ebenso wie für unsere Erinnerungen, Mythen und Metaphern», hält Macfarlane fest.
Macfarlanes Reisebericht durch das Pariser Stollenlabyrinth ist eine raffinierte Mischung aus Abenteuererzählung und Essay. Er ist analytisch präzis, poetisch und immer wieder ausschweifend.
Fast wie eine Fotografie
Macfarlane ist einer der bedeutendsten Vertreter des «Nature Writing». Eine gehörige Portion Naturbeschreibung kommt hinzu, wenn der Autor fernab der Zivilisation in Höhlen, Gräben und Stollen klettert.
Er erkundet die Felsmalereien mit den roten Strichmännchen auf den Lofoten oder die Partisanengräber in den slowenischen Alpen erkundet. Hier beschreibt er die Landschaften so treffend, so dass man fast glaubt, eine Fotografie zu betrachten.
Loswerden oder beschützen
«Im Unterland» ist eine Entdeckungsreise in betörend schöne und auch verstörende Welten unter der Erde. Dabei hat sich der britische Autor buchstäblich vom Verstehen Wollen antreiben lassen.
«To understand»: Im Englischen trägt der Begriff den Bedeutungsaspekt «unter etwas gehen, um etwas in seiner Gänze zu erfassen» in sich.
So werden Macfarlanes Erzählungen auch zu Reisen zu uns selbst: Denn seit jeher verscharrt, versenkt oder vergräbt der Mensch unter der Erde das, was er loswerden oder beschützen will.