Seit Rushdie in den USA lebt, also seit mehr als 20 Jahren, schreibt er zweierlei Arten von Romanen. Die einen wie «Wut», «Goldenhouse» und «Quichotte» sind satirische Betrachtungen der gegenwärtigen amerikanischen Realität. Die anderen sind lyrische Erzählungen über sein Heimatland Indien. «Victory City», entstanden noch vor der Messerattacke, gehört eindeutig zu letzteren.
Es war einmal in Südindien
Darin erzählt Rushdie eine mythologisch anmutende Geschichte aus Südindien im 14. Jahrhundert. Pampa Kampana, ein neunjähriges Mädchen, erhält nach einem verheerenden Krieg den göttlichen Auftrag, eine Stadt zu erschaffen, in der die Rechte der Frauen gewahrt und der religiöse Fanatismus überwunden sind. Die Stadt Bisnaga, ein Ort der Freiheit und Toleranz, des Wissens und der Zukunft.
Pampa Kampana macht sich an die Arbeit, erschafft die Stadt und die Menschen aus einem Sack voller Saatgut und flüstert ihnen eine Geschichte ein. Rasch weiss niemand mehr, dass die Stadt gar keine Vergangenheit hat. Bisnaga erblüht und steigt auf, wird reich und mächtig und ist nach kurzer Zeit das Zentrum eines gewaltigen Reiches.
Alle gegen alle
Doch die Menschen vergessen. Sie vergessen den solidarischen Grundgedanken ihrer Stadt und zerfallen in sich bekämpfende Gruppen. Die Religiösen gegen die Freidenker, die Einheimischen gegen die Fremden, die Männer gegen die Frauen. Pampa Kampanas Flüstern erreicht sie nicht mehr. Die Stadt steigt ab und geht am Ende unter.
Pampa Kampana aber, die durch den göttlichen Auftrag auch Langlebigkeit erhalten hat, zieht sich zurück und schreibt die ganze Geschichte auf. Als fulminantes Epos, als brillantes Gedicht. Dann stirbt sie nach zweieinhalb Jahrhunderten Leben.
Hohe Erzählkunst
Jetzt tritt Salman Rushdie auf den Plan, der grosse Erzähler. Er behauptet einen Ich-Erzähler, dem eine Übersetzung von Pampa Kampanas Epos vorliegt und erzählt ihre Geschichte nach.
Er erzählt sie nach, mit allen Kriegen und Schlachten, Aufstiegen und Niederlagen, mit Liebe und Hass, mit Mystik und Zauber. Es ist, als wäre Pampa Kampanas Epos ein Stück indischer Mythologie, vergleichbar mit der «Mahabharata» und anderem.
Lange hat Rushdie dafür recherchiert. Viel hat er gelesen. Nicht nur indische Mythologie, sondern auch arabische und muslimische. Der Reiz des Romans aber liegt nicht nur in der Vermittlung all dieser geistigen und durchaus auch sinnlichen Welten, sondern auch in Rushdies Erzählkunst.
Fabulierkunst vom Feinsten
Der Trick mit der Übersetzung macht ihn zum Chef der Geschichte und gibt ihm die Möglichkeit, um aus einer an sich traurigen und blutigen Geschichte ein grossartiges und packendes Spektakel zu machen. Voller Helligkeit und Humor.
So feiert Salman Rushdie die Macht des Wortes. Nicht von ungefähr endet sein Roman nach 400 Seiten und zweieinhalb Jahrhunderten fulminantester Geschichte und Geschichten mit dem Satz: «Worte sind die einzigen Sieger».