In Finnland ist die 61-jährige Monika Fagerholm ein Star. Für «Wer hat Bambi getötet?» erhielt sie 2020 den Literaturpreis des Nordischen Rates, den wichtigsten Literaturpreis Skandinaviens. Und das für einen Roman mit starkem Tobak: Ausgangspunkt ist eine Gruppenvergewaltigung unter Jugendlichen aus gutem Haus.
Um sich an ihr zu rächen, weil sie ihn verlassen hatte, lockt ein 17-Jähriger seine Ex-Freundin an eine Party in der elterlichen Villa. Hier vergewaltigt er sie mit drei anderen, stundenlang. Danach tun alle so, als wäre nichts geschehen – und scheinbar kommen sie damit durch.
Von der Realität eingeholt
Monika Fagerholm untersucht in ihrem nun auf Deutsch erschienenen Roman, welche Strukturen ein solches Verbrechen möglich machen und welche Folgen es hat – auch für die Täter. Dass sie mitten im Schreiben von der Realität eingeholt wurde, gab ihrem Text eine zusätzliche Dringlichkeit.
Sie lebe in einer Kleinstadt im Süden Finnlands, in der nie etwas passiere, erzählt sie. «Aber im Sommer 2017 wurde eine 20-Jährige von ihrem Ex-Freund, einem bekannten Fussballer, brutal ermordet. Dann geschah, was auch in meinem Roman geschieht: Niemand sprach darüber.»
Monika Fagerholm beschäftigt sich schon lange mit Gewalt gegen Frauen. Nach der verstörenden Tat in ihrer Stadt konstatierte sie ein Muster, wie es sich in solchen Fällen oft einstelle. Die Tat werde beschwiegen, man weiche auf Klatsch aus und suche einen Sündenbock: «Man erzeugt ein neues Opfer und deckt so letztlich den Täter.»
Die Ressourcen der Oberschicht
«Wer hat Bambi getötet?» spielt in der Oberschicht. Für Monika Fagerholm zeigen sich da Gewaltmuster und ihre Voraussetzungen paradigmatisch: «Es gibt ausreichend Ressourcen in Form von Geld, Macht und Einflussnahme, zum Beispiel auf die Justiz. Schon in der Kindheit der Jugendlichen wird alles mit Geld ausgebügelt.»
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Auch im Umgang der Erwachsenen miteinander sei alles nur Kalkül. Und die Jugendlichen würden im Grunde nie als Individuen wahrgenommen: «Sie werden aus allen Schwierigkeiten herausgekauft, aber nie um ihrer selbst willen. Sie sind das Pfand ihrer Familien. Es geht nur darum, dass sie später als Erwachsene die Macht weitertragen.»
Ein Sex-Pistols-Song als Titel
Letztlich schreibt Monika Fagerholm in ihrem Roman weit über die Gewalttat hinaus. Es geht auch um heillose Beziehungen und zerstörte Kindheiten. Schon der Titel «Wer hat Bambi getötet?» verweist darauf. Er bezieht sich auf den gleichnamigen Song der Punkband Sex Pistols.
Natürlich gehöre der Verlust der Unschuld zum Erwachsenwerden, sagt Fagerholm. Aber wir bräuchten auch die Sehnsucht nach der kindlichen Unschuld: «Sie macht uns menschlich und offen für andere. Können wir nur auf verbrannte Erde zurückblicken, haben wir unser ganzes Kapital an Empathie verloren.»
Monika Fagerholm wirft in ihrem Roman grosse gesellschaftliche und menschliche Fragen auf und packt sie in ambivalent schillernde Plot-Partikel. Nicht das Opfer, sondern einer der Täter erzählt – in einem inneren Monolog, in den dauernd andere reinquatschen und der spielerisch zum Mitdenken auffordert.
Das Buch ist ein höchst kunstfertiger Pageturner: Wie Weberschiffchen sausen Erinnerungsfetzen, Jugendslang, Musik, Film, Literatur, Social Media und vieles mehr durch den Text. Es sind faszinierende psychologische Marker, die intensiver und präziser über die Figuren erzählen, als sie selbst es könnten.