Im Jahr 1983 zieht in einer angesehenen Wohngegend eine afroamerikanische Familie ein. Ihre Nachbarn, eine weisse Familie, mokieren sich über die neuen Bewohner – und wollen keinesfalls, dass die afroamerikanische Familie dies merkt. «Um nicht unhöflich zu wirken.»
Das Leben dieser beiden Familien beschreibt die US-amerikanische Schriftstellerin Regina Porter in ihrem Debütroman «Die Reisenden», der diesen Frühling erschien. Die Geschichte umspannt den Zeitraum ab den 1950er-Jahren bis 2009, dem ersten Präsidentschaftsjahr von Barack Obama.
Mit nüchterner, oft lakonischer Sprache schildert Porter traumatische, rassistisch motivierte Ereignisse und betont damit ihre Dringlichkeit.
Sie erzählt auch von subtilen, alltäglichen Begebenheiten, wie die eingangs beschriebene Szene, bei denen Rassismus erst auf den zweiten Blick erkennbar ist.
«Gott ist weiss»
In der afroamerikanischen Literatur gibt es seit dem 19. Jahrhundert Gedichte, Kurzgeschichten und Romane, die sich mit Rassismus befassen. Als Klassiker und Referenzwerk gilt der Essayband «Nach der Flut das Feuer» (1963) von James Baldwin.
«Wenn man an der Liebe der Menschen verzweifelt – und wer ist das nicht schon mal? –, bleibt nur die Liebe Gottes. Aber Gott – und das spürte ich sogar damals, vor so langer Zeit (...) – ist weiss.»
Nur ein weisser Gott würde Übergriffe, Diskriminierungen und Vorurteile gegenüber Afroamerikanern zulassen, dachte er. Nur so konnte er sich Rassismus erklären.
Buchhinweise zu Baldwin und Porter
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James Baldwin: «Nach der Flut das Feuer», dtv Verlag 2020
James Baldwin: «Von dieser Welt», dtv Verlag 2019
Regina Porter: «Die Reisenden», S. Fischer Verlag 2020
Kein Platz in der Gesellschaft
James Baldwin ist einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er wurde 1924 in New York geboren, stammt von Sklaven ab.
In seinem stark autobiografisch gefärbten Roman «Go Tell It on the Mountain» (deutsch: «Von dieser Welt») schreibt Baldwin, er habe schon früh festgestellt, dass für Menschen seiner Hautfarbe in der US-amerikanischen Gesellschaft kein Platz vorgesehen war.
Trotzdem konnte er sich mit einem fanatischen schwarzen Prediger, der von den «weissen Teufeln» sprach, nicht identifizieren. So einfach machte er es sich nicht.
Hautfarbe ist eine politische Realität
In seinem Buch «Nach der Flut das Feuer» setzt sich James Baldwin differenziert mit Rassismus auseinander. Er schreibt:
«Wir dürfen nicht glauben, dass Schwarze, weil ihre Situation, ihre Gepflogenheiten und ihre Ansichten sich so grundlegend von denen der Weissen unterscheiden, ‹die bessere Rasse› seien. (…) Hautfarbe ist keine menschliche oder persönliche Realität, sie ist eine politische.»
Wie die letzten Tage und Wochen zeigen, sind Baldwins präzise, klare Beobachtungen und Ausführungen auch heute noch von erschütternder Aktualität. Was seine Texte besonders eindrücklich macht, ist die Kombination aus intellektuellen Überlegungen und tiefen Gefühlen.
«Eine unangreifbare, einzigartige Würde»
Letztere zeigen sich beispielsweise im Brief, den Baldwin an seinen 15-jährigen Neffen schreibt. Dieser Brief macht den Auftakt im Essayband. Baldwin schreibt:
«Dies ist Dein Zuhause, James, lass Dich nicht verjagen; grosse Männer haben hier Grosses vollbracht und werden weiter Grosses vollbringen, und wir können Amerika zu dem machen, was Amerika werden soll. Es wird nicht leicht, James, aber du bist aus robustem Holz geschnitzt. Du stammst von Männern ab, die Baumwolle gepflückt, Flüsse gestaut und Eisenbahnen gebaut und den ärgsten Widrigkeiten zum Trotz eine unangreifbare, einzigartige Würde erlangt haben.»
Auf der Suche nach Verbindendem
Wo James Baldwin gesellschaftspolitische Überlegungen aus seiner persönlichen Erfahrung heraus ableitet, bleibt Regina Porter nah an der Beschreibung des Alltags und Bewältigung des Lebens.
Aber beide sind keine «Polterer». Beide setzen sich differenziert mit Rassismus auseinander, suchen aber auch das Verbindende zwischen den Menschen.
Wie James Baldwin am Ende seines Essaybandes schreibt:
«Wenn wir – damit meine ich die einigermassen bewussten Weissen und die einigermassen bewussten Schwarzen, die wie Liebende das Bewusstsein des anderen einfordern oder wecken müssen – jetzt nicht nachlassen in unserer Pflicht, sind wir, die kleine Handvoll, vielleicht imstande, diesen rassistischen Albtraum zu beenden.»
7 afroamerikanische Romane, die Sie kennen sollten
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Zora Neale Hurston: Vor ihren Augen sahen sie Gott (1937)
Dieser Roman stiess ursprünglich selbst bei männlichen afroamerikanischen Autoren auf Ablehnung, wohl wegen der Perspektive: Hurston schildert die doppelte Diskriminierung schwarzer Frauen – nicht nur wegen der Hautfarbe, sondern auch des Geschlechts. Erst in den 1970ern haben schwarze Feministinnen und Feministen das Buch wiederentdeckt.
Hurston erzählt davon, wie eine Frau nach drei Ehen, in denen sie missbraucht und mit dem Tod bedroht wird, zu sich selbst findet. Die Autorin schrieb im schwarzen Dialekt der Südstaaten. Und ermächtigte damit Afroamerikanerinnen, die eigene Stimme laut werden zu lassen.
Ralph Ellison: Der unsichtbare Mann (1952)
Ein Afroamerikaner berichtet aus einem mit 100 Glühbirnen ausgeleuchteten Kellerloch von einem Leben voller Demütigungen. Nachdem er seinen Job bei einer Fabrik für weisse Farbe wegen einer Intrige verliert, durchlebt er eine Odyssee, die ihn in die Arme einer marxistischen schwarzen Bruderschaft führt. Doch auch die bietet nicht, was er sucht: eine Identität. Sein Wunsch, endlich gesehen zu werden, erfüllt sich erst, als er zu erzählen beginnt.
Das Buch war damals eine Provokation, weil Ellison mit dem afroamerikanischen Protestroman brach. Stattdessen schrieb er ironisch, absurd, surrealistisch.
Maya Angelou: Ich weiss, warum der gefangene Vogel singt (1969)
In den USA gehört Maya Angelou zu den meist gelesenen Autorinnen überhaupt. Im ersten Band ihrer literarischen Autobiografie schildert sie in mehreren Episoden ihre Kindheit im amerikanischen Süden der 1930er und 1940er. Die junge Maya wächst bei ihrer Grossmutter in Armut auf. Sie erlebt nicht nur die sogenannte «Rassentrennung», sondern wird als Achtjährige auch Opfer einer Vergewaltigung, die sie die Sprache verlieren lässt. Erst durch einen Gedichtband findet sie sie wieder – und lernt, sich schreibend gegen Rassismus, Gewalt und Unterdrückung zur Wehr zu setzen.
Fran Ross: Oreo (1974)
Manche Bücher sind ihrer Zeit voraus. So auch Fran Ross’ schreiend komischer Schelmenroman. Gleich nach Erscheinen ging er vergessen. Erst 2000 wurde er wiederentdeckt. Darin reist Oreo, ein Teenager mit jüdisch-afroamerikanischen Wurzeln, auf der Suche nach ihrem Vater durch New York.
Der Roman sprengt alle Lesegewohnheiten: Oreo mischt munter jiddische Ausdrücke und afroamerikanischen Slang, die Handlung parodiert den antiken Theseus-Mythos. Fran Ross bringt vermeintlich Gegensätzliches zusammen und hinterfragt festgefahrene Identitäten. Kein Wunder, wirkt der Roman hochmodern.
Octavia E. Butler: Kindred (1979)
Octavia Butler war eine Pionierin. Als schwarze Schriftstellerin stiess sie in ein Genre vor, das weiss und männlich dominiert war: die Science-Fiction.
Die Afroamerikanerin Dana reist unfreiwillig aus den 1970ern ins frühe 19. Jahrhundert. Dort trifft sie ihre Ahnin, eine freie Sklavin, und rettet einem Plantagenbesitzer das Leben. Worauf der die Ahnin in die Sklaverei zwingt. Die Handlung verkompliziert sich zusätzlich, als Danas weisser Ehemann ihr in die Vergangenheit folgt.
Mit «Kindred» kritisiert Butler die offizielle US-Gesichtsschreibung, die diese Epoche lange beschönigte.
Toni Morrison: Menschenkind (1987)
Auch Toni Morrison verarbeitet das Trauma der Sklaverei. Sie erzählt von der Sklavin Sethe, die auf der Flucht ihr Kind ertränkt. So will sie es vor der Sklaverei bewahren. Jahre später wird die inzwischen freie Sethe von der Erinnerung an ihre Tat heimgesucht – bis eine Frau auftaucht, von der sie glaubt, sie sei die Reinkarnation ihrer Tochter.
Morrisons Epos beleuchtet die psychologischen Folgen der Sklaverei, die noch heute nachhallen. Dabei wählt sie eine genuin schwarze Perspektive, die in Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner mehr als nur als Opfer sieht. 1993 erhielt sie den Literaturnobelpreis.
Colson Whitehead: Die Nickel Boys (2019)
Der zweifache Pulitzer-Preisträger schreibt über eine wahre Begebenheit. In einer «Besserungsanstalt» in Florida wurden junge Afroamerikaner jahrzehntlang misshandelt und ermordet. Dieses Verbrechen kam erst im letzten Jahrzehnt ans Licht, als man zahlreiche Leichen auf dem Gelände fand.
In den 1960ern freut sich der junge Elwood auf sein Studium, als er wegen eines Justizirrtums in der «Nickel Academy» landet. Anfänglich versucht er, optimistisch zu bleiben. Aber bald erfährt er die Grausamkeit der Anstalt am eigenen Leib. Als er anfängt sich zu wehren, steht sein Leben auf dem Spiel.
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