Sich die Nächte um die Ohren schlagen, die Füsse wundtanzen zu wilder Livemusik: Nach dem Ersten Weltkrieg ist das ein dringendes Bedürfnis. Dafür kommt Jazz wie gerufen und lässt Europa die harten Kriegsjahre abschütteln. Auch in der Schweiz fegen die neuen Klänge die geltenden Etiketten weg, schreibt Sam Mumenthaler in «Hot! Jazz als frühe Popmusik».
Jazz ist Pop
Auch wenn die etablierte Gesellschaft vorerst die Nase rümpft: Jazz ist die Musik der Stunde, und da ist vieles mitgemeint. «Jazz ist ein Sammelbegriff. Dazu gehört alles, was nicht Ländler oder europäische Musikkultur ist», sagt Mumenthaler.
Am stärksten ist der Einfluss des Swing – afroamerikanische Tanzmusik, die im Ersten Weltkrieg mit den US-Truppen nach Europa schwappt. Die neuen Töne werden zur Jugendbewegung. Diese zelebriert die US-Kultur auch in Mode und Accessoires. Doch die Schweiz muss zu ihrem Glück ein wenig gezwungen werden.
Tanzorchester spielten den Alpen-Soundtrack
Der Jazz erobert die Schweiz über die touristischen Zentren in den Bergen. Dort wollen die Kurgäste zur neuen Tanzmusik feiern. Um die gut betuchte Klientel zufriedenzustellen, satteln die Musiker um.
Die hohe Nachfrage bestimmt das Angebot: Es entsteht eine fruchtbare Szene von Schweizer Tanzorchestern. Mit ihrer Version von Jazz begeistern die Bands mehr und mehr Menschen.
Inwiefern handelt es sich um kulturelle Aneignung? Sam Mumenthaler betrachtet die Musik als Teil des Lebensgefühls. «Und ich denke, ein Lebensgefühl kann man nicht kopieren. Entweder man hat es, oder man hat es nicht.»
Den Soundtrack zum neuen Lebensgefühl gibt es in den 1920er-Jahren nur live. Damit lässt sich gutes Geld verdienen. Die Musiker – damals überwiegend männlich – arbeiten sehr hart. «Ein Engagement bedeutete acht bis zwölf Stunden Arbeit, sieben Tage die Woche – ohne Ferien», erklärt der Musikchronist.
In dieser Branche ist der Geschäftssinn Treiber: «Für die Gäste aufspielen, das war der alleinige Zweck jener Unterhaltungsorchester». Aber auch, wenn sie keine eigene Musik erfinden: Unterschätzen sollte man die Schweizer Tanzorchester nicht.
Elvis hat das Rad doch nicht erfunden
Die Musiker folgten den aktuellen Trends und spielten fürs breite Publikum. Darum sind die Unterhaltungsorchester von der Geschichtsschreibung oft übersehen oder sogar belächelt worden. «Dabei waren gerade sie für viele Menschen am prägendsten. Das waren die Bands, zu denen man live tanzen konnte.»
Dass die frühen Tanzorchester die Bühne geebnet haben für die Pop- und Rockmusik der Schweiz, ist für den Musikchronisten Sam Mumenthalter eine Entdeckung: «Als Kinder der 1960er-Jahre hatten wir immer das Gefühl, dass die Beat-Bands – und vielleicht auch Elvis – das Rad erfunden hätten. Doch je mehr ich recherchiert habe, desto mehr habe ich gemerkt: Von nichts kommt nichts.»
Oder mit anderen Worten: Musik muss einer breiten Masse einfahren, damit sie das Potenzial hat, etwas zu verändern.