Der Mythos des mürrischen Beethoven
Das Bild, das wir von Ludwig van Beethoven haben, ist das eines grimmigen Mannes: mit heruntergezogenen Mundwinkeln, gefurchter Stirn und abwehrendem, bösem Blick.
So wollen wir ihn auch in seiner Musik hören. Die Schrecken der c-Moll Sinfonie, seiner berühmten «Fünften»: E.T.A. Hoffmann, Schriftsteller und Musikkritiker, hat in dieser Sinfonie die «Hebel der Furcht, des Entsetzens, des Schmerzes» gehört, «Riesenschatten, die auf- und abwogen und uns enger und enger einschliessen». Das passt ins Bild des grimmigen Beethoven. Wie auch das Wüten seiner «Sturmsonate». War Beethoven wirklich ein dauermürrischer Choleriker?
Nein, das war er nicht. Obwohl viele Gemälde den Komponisten zum Fürchten erscheinen lassen: zorngefaltet das Antlitz, stechend die Augen.
Doch viele dieser Bilder sind als Kopien entstanden, die auf eine sogenannte Lebendmaske zurückgehen. Also auf einen Gipsabdruck, den man zu Lebzeiten von Beethoven gemacht hat. Damit der Arme nicht unter der feuchten Gipsmasse erstickte, gab man ihm zum Atmen zwei Strohhalme in die Mundwinkel.
Zusammen mit der Erstickungsangst, die Beethoven unter dem Gips hatte, führte das zu diesem Gesichtsausdruck. Einem Ausdruck, den wir heute nicht gerade «instagrammable» nennen würden, der aber unser Bild von Beethoven prägte.
Auch die Musik stützt das Bild des düsteren Beethoven nur bedingt. Nehmen wir die 5. Sinfonie. Gewiss, die Sinfonie fängt düster an. Doch ist das ja gerade ihr Programm, dass sie von dieser Dunkelheit zum triumphalen Licht in C-Dur vorstösst. Wer nur das «Tatatataaa» kennt, weiss das nicht.
Und wer nur diese «Fünfte» kennt, sollte sich einmal das klingend helle Violinkonzert anhören, die zarten Töne der als «Les Adieux» bekannten 26. Klaviersonate, die Eleganz seiner mittleren Streichquartette. Beethoven ist mehr als seine Symbol gewordene Schreckensfanfare «Tatatataaa». Der grimme Beethoven, er ist eine Mär.
Der Mythos des ungeliebten Beethoven
Beethoven konnte überaus charmant sein. Er war eine Attraktion: Als feuriger Improvisator auf dem Klavier begeisterte er die musikliebenden Adligen, deren es im Wien seiner Zeit einige gab. Als zumindest in jungen Jahren durchaus gutaussehender Mann gefiel er auch der Damenwelt.
Zahlreich sind denn auch die Liebesbriefe, die Beethoven geschrieben hat. Und explizit: «Schon im Bette drängen sich die Ideen zu Dir, meine unsterbliche Geliebte», schrieb er in vertraulichem «Du» an die Adlige Josephine von Brunsvik.
Josephine war eine der vielen Klavierschülerinnen Beethovens. Als ihre Familie merkte, dass da etwas im Busch ist, verheiratete sie die Neunzehnjährige mit einem dreissig Jahre älteren Mann.
Dennoch traf sie ihren attraktiven Lehrer und Liebhaber weiterhin. Es ist nicht unmöglich, dass die beiden ein Kind gezeugt haben: Minona, die sehr musikalisch gewesen sei. Minona übrigens, rückwärts gelesen, heisst: anonym.
Der Mythos des chaotischen Beethoven
In Gelddingen und als Komponist gilt Beethoven als Chaot. Auch dieses Vorurteil passt zum romantischen Bild, muss heute aber als veraltet gelten. Beethovens Freunde, Bekannte und seine sogenannten Sekretäre kolportierten auch hier ein Image, das nicht zwingend stimmen muss.
«Ein Notenblatt mit den verschiedenartigsten Ideen ohne allen Zusammenhang hingeworfen, die heterogensten Einzelheiten nebeneinandergestellt», bemerkte einer von ihnen. Aber: Sind Skizzen je «ordentlich»? Welcher Komponist schreibt druckreif aufs Papier?
Beethoven selbst empfahl einem komponierenden Schüler, sich ein «kleines Tischgen an’s Klavier» zu stellen. So lerne man, seine Ideen, auch die entlegensten, augenblicklich festzuhalten.
Dieser Schüler war kein Geringerer als Erzherzog Rudolf, Sohn des österreichischen Kaisers und einer der wichtigsten Mäzene Beethovens. Also gewiss niemand, dem Beethoven ein Chaos in dessen Kompositionen zu wünschen wagte.
Der Mythos des armen Beethoven
Ein armer Schlucker war Beethoven nicht. Die Musikgeschichtsschreibung nennt ihn als einen der ersten Komponisten, der nicht in adligen Diensten war. Das stimmt: Beethoven schrieb seine Musik nicht allein zur Unterhaltung der Reichen und war an keinem Hof angestellt. Seine Sinfonien waren Ideenkunstwerke für alle.
Beethoven musste also selbst Geld auftreiben: Konzerte auf Subskriptionsbasis organisieren (worin er nicht besonders erfolgreich war), mit Verlegern um Honorare feilschen (was ihm schon besser gelang). Beethoven besass sogar Aktien.
Aber er bekam eben doch auch vom Adel Geld. Einem Adel, der durchaus kunstsinnig war – und Beethoven unbedingt in Wien behalten wollte, als der sich überlegte, einen Posten in Kassel anzunehmen. Beethoven widmete diesem Adel Sonaten, Quartette, ganze Sinfonien und bekam dafür harte Währung.
Mehr noch: Beethoven erhielt auch eine sogenannte Leibrente. Also monatliche Geldsummen – und dies von gleich zwei Fürsten sowie von seinem Schüler Erzherzog Rudolf. Geld also war da.
Der Mythos des revolutionären Beethoven
Bereits in seiner Jugend in Bonn kam Beethoven mit den Ideen der Französischen Revolution in Kontakt und sympathisierte mit ihnen. Er verehrte Napoleon, der das alte Europa umpflügen sollte.
Im kaiserlichen Wien machte er sich über die bequeme Bevölkerung lustig: «So lange der Österreicher noch braunes Bier und Würstel hat, revoltiert er nicht.» Doch dann die grosse Enttäuschung: Napoleon krönte sich selbst zum Kaiser. Beethoven war wütend, sah seine Ideale verraten.
Aber bei genauem Hinsehen wird klar, dass Beethoven nie ein eigentlicher Revolutionär im politischen Sinne war. Ihm ging es um die Freiheit, gewiss. Aber er sympathisierte stets mit dem Adel .
Adel war für ihn auch Geistesadel. Berühmt sein Ausspruch gegenüber Fürst Lichnowsky, einem seiner Gönner: «Fürst! Was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt. Was ich bin, bin ich durch mich. Fürsten gibt es Tausende. Beethoven nur einen.»
Der Mythos des jähzornigen Beethoven
Beethoven konnte sehr wohl ungnädig mit anderen Menschen verfahren. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Ideale der französischen Revolution – hörten für Beethoven bei seinen Angestellten auf.
Ob er nun wirklich Eier nach seiner Haushälterin geworfen hat, wie erzählt wird, oder nicht: Beethoven konnte, wie die Beethoven-Kennerin Eleonore Büning in ihrem Buch «Sprechen wir über Beethoven» ausführt, mit Untergebenen recht arrogant verfahren.
Der Mythos des unerreichbaren Beethoven
Die Mythisierung Beethovens fing mit Berichten seiner Freunde an. Seine Stilisierung zum Titanen der Töne, zum unerreichbaren Tonkünstler, liegt aber auch in der Literatur begründet.
Die Schriftstellerin Bettine von Arnim etwa schrieb acht Jahre nach Beethovens Tod über eine Orchesterprobe, der sie angeblich beigewohnt hatte: «Da sah ich diesen ungeheuren Geist sein Regiment führen. Kein Kaiser, kein König hat so das Bewusstsein seiner Macht und dass alle Kraft von ihm ausgehe, wie dieser Beethoven ...»
Da ist er, der Titan, der über Königen und Kaisern steht und uns mit seinen Sinfonien den Weg weist. Heutige Deutung und musikalische Interpretation sehen anders aus: «Beethoven ist ein Mensch, kein Titan und kein Denkmal», sagt der Schweizer Dirigent und Chef der Wiener Symphoniker, Philippe Jordan. Und Orchester wie das Kammerorchester Basel zeigen schon seit einiger Zeit, dass Beethoven auch anders klingen kann als in der historisch informierten Aufführungspraxis: Leicht, durchhörbar, federnd.
Der Mythos des tauben Beethoven
Beethovens Taubheit gab es wirklich und sie war schlimm für den Komponisten. Im sogenannten Heiligenstädter Testament schreibt der erst 42-Jährige von seiner Verzweiflung über die zunehmende Taubheit, die er zuvor noch verstecken wollte.
Es ist gewissermassen ein Coming-out: «Sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub.» Sollte man ihn je, so heisst es weiter, «feindselig, störrisch oder misanthropisch» wahrgenommen haben, so hänge das mit seiner Taubheit zusammen. «Früh musste ich mich absondern, einsam mein Leben zubringen.»
Unser Beethoven
Es stimmt also einiges an dem Bild, das Beethovens Umwelt von ihm zeichnete. Beethoven selbst hat aber teilweise die Grundsteine zu seiner Mythisierung gelegt. Was allerdings in den beinahe 200 Jahren seit seinem Tod damit passiert ist, darüber hatte er keine Kontrolle.
Welches Bild wir von Ludwig van Beethoven haben wollen, liegt heute in den Händen von Musikerinnen und Musikern, Autoren und Musikwissenschaftlerinnen und – nicht zuletzt – auch in unseren Händen.