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Spätsommer in Berlin. DJ Nader aus Zürich legt in einem Technoclub auf. Nader schreibt mich auf die Gästeliste und fragt, ob ich ihn am Sonntagnachmittag bei der Arbeit besuchen möchte. Er nennt es «Tanztee.» Ich bin 48 Jahre alt und antworte: «Meinst du, die lassen Opa rein?»
Wer hätte das gedacht vor 30 Jahren: weit über 40-Jährige im Technoclub – auf der Tanzfläche, hinter dem Mischpult.
In Olten sind Nader Kuhenuri und ich in den 80er-Jahren zur Schule gegangen, in Zürich hat er mir danach die Techno-Partys gezeigt.
Länger tanzen
Die Clubs waren klein und hiessen «Das All» oder «Aera». In den Nullerjahren wurden sie grösser – und krasser, was Dauer und Drogen angeht. Länger tanzen, mehr nehmen.
Als «Silberraver» kann man heute auch tagsüber und nüchtern ausgehen, in einigen Fällen gibt es sogar Kinderbetreuung nebenan.
«Techno war nie dazu gedacht, sich von andern abzugrenzen wie alle Jugendkulturen zuvor», sagt Nader. Im berühmten Berliner Club Berghain zum Beispiel steht ein fortgeschrittenes Alter dem Einlass nicht im Weg.
Die gute alte Zeit?
Was ist anders als früher? Nader sagt: «Ich finde: nicht viel. Ehrlich.» Dabei schwärmen heute schon Mittdreissiger von der «guten alten Zeit» des Techno.
«Ich verstehe das nicht. Es geht wie früher um Kurzferien vom Alltag.» Und weil Techno musikalisch die Langstrecke läuft und nicht nach 30 Sekunden einen Refrain als Höhepunkt liefert, sieht auch das Paarverhalten in den Clubs anders aus.
Nader: «Der schnelle Aufriss stand im Techno noch nie im Zentrum. Die Regel ist: Umarmungen ohne sexuelle Absichten. Warum sollte sich so etwas auch verändern?»
Touristenziel Techno
Techno war manchmal ein soziales Labor. Heute ist Techno vor allem ein globales Geschäft. In der Feiermetropole Berlin gehört Techno genauso zum Stadtmarketing wie der Fernsehturm.
Rund ein Drittel der über 30 Millionen Übernachtungen pro Jahr gehen auf das Konto von Clubtouristen.
Und während der Streetparade tanzen noch heute eine Million verkleidete Raverinnen und Raver um das Zürcher Seebecken.
Den Anfang machte Detroit
Wie kam es dazu? Und was ist das Erbe der längst globalen Tanzkultur? Um zu verstehen, woher die Musik und ihre Kultur kommen, muss man nach Detroit schwenken, wo alles begann.
Juan Atkins aus Detroit ist 56 Jahre alt und gilt als der Erfinder des Detroit Techno. Man nennt ihn auch «The Originator». Es ist 30 Jahre her, dass die Musik ihren Namen erhielt.
In England erschien ein Album mit dem Titel «Techno: The New Dance Sound of Detroit». Darauf: «Techno Music» von Model 500, wie sich Atkins als Produzent nannte. «Wir machten alle schon Jahre zuvor elektronische Musik. Aber wenn man heute zurückschaut», sagt Atkins, «war das der Anfang.»
Techno ist schwarze Musik
Zufällig lebte auch ich 1988 vor den Toren Detroits. Getroffen habe ich Atkins damals nicht. Detroit ist eine Grossstadt. Der eigentliche Grund: Atkins ist schwarz und ich weiss. Und alle Gründerfiguren von Techno waren schwarz.
«Selbst die meisten Afroamerikaner halten Techno heute für weisse Musik», sagt Atkins im Gespräch in Berlin am Tag nach einem Konzert – in einem Theater übrigens. Technogeschichte als Hochkultur. Das war früher anders, erst recht in den USA.
Aus den Ruinen entstiegen
1988 ist Ronald Reagan noch Präsident der Vereinigten Staaten, seine Frau Nancy prägt den «War on Drugs». Das bedeutet drakonische Strafen auch für kleine Mengen Besitz. Im Westen des Bundesstaates Michigan entsteht eine Gefängnisindustrie mit vielen Arbeitsplätzen.
Im Osten, in der alten Autometropole Detroit, traut sich die weisse Mittelklasse aus den Vororten selbst mit dem Auto kaum in die verarmte Stadt. Crack, Beschaffungskriminalität, kaputte Infrastruktur: Das ist die ruinöse Kulisse, vor der Techno entstand.
Musik der Mittelschicht
Allerdings sahen das vor allem Weisse so. Atkins sagt: «Mitte der 80er-Jahre gab es noch eine schwarze Mittelschicht in Detroit, aus den Tagen der Autoindustrie. Die stilbewusste Jugend liebte elektronische Musik, und das waren keine Gangster.»
Der Influencer der ersten Stunde war ein afroamerikanischer Radio-DJ namens Electrifying Mojo, den man nur in der Innenstadt Detroits hören konnte.
Atkins erinnert sich: «Mojo hat uns auch mit weisser Musik bekannt gemacht, er machte da keine Unterschiede.» Neben schwärzestem Funk von Parliament und Funkadelic spielte Mojo auch europäische elektronische Musik wie Tangerine Dream aus Berlin.
Prägende Band aus Deutschland
Noch wichtiger war eine andere deutsche Band: «Als ich das erste Mal Kraftwerk hörte, fiel ich vom Stuhl», sagt Atkins. «Es war so präzise! Kraftwerk hat meine Vorstellung geprägt, wie digitale Musik klingen soll.»
Als ich ihn darauf anspreche, dass ich dachte, afroamerikanische Musik wäre traditionell präzise, sagt Atkins: «Ja, aber es gibt immer dieses lockere Element in der Black Music. Bei Kraftwerk nicht. Das fanden wir gerade scharf!»
Atkins zählt zusammen mit Derrick May und Kevin Saunderson zur ersten Generation von Detroit-Techno-Produzenten. Man nennt sie manchmal auch «The Belleville Three», nach dem besser gestellten Vorort westlich von Detroit, wo sich die drei auf einer von der weissen Mittelschicht dominierten Highschool kennenlernten.
Sound für eine bessere Zukunft
Nach dem Abschluss zogen Atkins, May und Saunderson alle zurück in die Stadt, die den Niedergang der Autoindustrie zu spüren bekam.
Mit dem neuen futuristischen Sound träumten sie von einer besseren Zukunft. Einer friedlichen Zukunft auf der Tanzfläche; einer Zukunft, in der Technologie das industrielle Zeitalter überwindet. «Techno wollte das Biest besänftigen, die Härte der Stadt erträglich machen, wenn man so will», meint Atkins.
Der zweite Sommer der Liebe
Mit den Verhältnissen in Europa hatte das wenig zu tun. In England gab es schon die verwandte Acid-Rave-Kultur in verlassenen Fabriken und auf abgelegenen Wiesen.
1988 war der Second Summer of Love – quietschende Schlagzeugcomputer, junge Leute auf dem weich machenden Ecstasy und dem aufputschenden Speed, dem Koks der Arbeiterklasse. Berlin war das Einfallstor für Techno aus Detroit und damit die Grundlage der Musik, die heute globaler Clubstandard ist.
Damit das Ufo aus Detroit in Berlin landen konnte, brauchte es kluge Köpfe in einer besonderen historischen Situation. Susanne Kirchmayr alias Electric Indigo kam aus Wien nach Berlin in die Technoszene und verkaufte Platten im Hard Wax, dem damals wichtigsten Plattenladen.
«In Deutschland ist Techno auf besonders fruchtbaren Boden gefallen, weil es sich zeitlich überlappt mit dem Fall der Mauer und der Wende», erklärt Kirchmayr.
Die Jugend war bereit
Die Jugend in der Grenzstadt war bereit für Musik ohne Worte, ohne Ballast. «Insbesondere in Berlin», sagt Kirchmayr, «sind die Ossis und die Wessis in den Technoclubs so richtig aufeinandergetroffen und haben dort erstmals gemeinsame Erlebnisse durchgemacht.»
Dazu brauchte es viel Platz. Fast alle Technoclubs lagen im Osten der Stadt, in der ehemaligen DDR.
Susanne Kirchmayr: «Wir waren alle Nutzniesserinnen von den ungeklärten Besitzverhältnissen, die damals herrschten. Die Clubkultur in Berlin entstand aus dieser geschichtlich einmaligen Situation, aus den Brachlandecken und unbewohnten Gebäuden, mitten in der Stadt.»
Der Platz war da
Ungeklärte Besitzverhältnisse hiess: Wohnungen von geflüchteten oder ausgereisten DDR-Bürgerinnen oder ehemals jüdischer Besitz, der durch die Nazis enteignet und in der DDR verstaatlicht wurde.
Soweit die Weltgeschichte. Aber ohne verständige Leute in der Stadtverwaltung hätte die Kreativ- und Technoszene nie diese Möglichkeiten erhalten.
Von Detroit nach Berlin
Bestimmend waren Clubs wie der Tresor oder der Plattenladen Hard Wax, um die Musik aus Detroit in die Stadt zu holen.
Juan Atkins hatte extra ein Album mit dem gebürtigen Schweizer Thomas Fehlmann und dem Berliner Moritz von Oswald aufgenommen, um für einen Auftritt einen Flug nach Berlin bezahlen zu können.
Aber da gab es ein Problem, wie Juan Atkins sich erinnert: «Ich hatte gar nicht genug Technoplatten dabei, um einen Abend im Club Tresor zu beschallen.»
Die Musik aus Detroit für den Star stammten aus einem Berliner Plattenladen, der eigens für Atkins öffnete. Später im Club hielten ihn dann doch die meisten für den Dealer, wie Atkins lachend erzählt – auch wenn er damals schockiert war.
Man vergötterte den afroamerikanischen DJ, und hielt gleichzeitig jeden Schwarzen im Club für den Dealer. Racial Profiling in der Technoszene.
Rücksichtsvolle Kultur
Rassismus ist eine Struktur, von der man sich nicht so schnell befreien kann. Doch das Partyvolk hat dazugelernt und reagiert achtsamer, zumindest in den guten Clubs. Das ist nur einer von vielen Lernprozessen, die in den Technoclubs nicht angeschoben, aber weiter eingeübt wurden.
«Was wir am ehesten vererben können», sagt Susanne Kirchmayr, «ist eine Kulturtechnik, wie man sich in einem dicht gedrängten Raum rücksichtsvoll bewegt.»
Grenzen überschreiten mit Mass
Kirchmayr lacht, meint es aber ernst. Denn in manchen Läden gehen die sozialen Experimente weiter als in andern – wenn «Hüllen fallen», wie sie sagt, wenn es darum geht, «Grenzen zu überschreiten, aber möglichst ohne jemand anders oder sich selber einen Schaden zuzufügen.»
Das ist der Grund, warum gute Türsteher manchmal so streng wirken.
Angepasste Raver?
In den 90er-Jahren schrieben linke Kritiker regelmässig über die Angepasstheit der Raver – am Wochenende feiern, immer lächeln, schön schlank bleiben und am Montag pünktlich zur Arbeit erscheinen.
Zum einen kann das nur behaupten, wer den Exzess einer zweitägigen Party und den Kater danach nicht kennt. Zum andern ist da etwas dran. Denn Techno ist viel Bewegung, ist Ja-Sagen, nicht Nein-Sagen.
Techno als Symptombekämpfung
Sicher kein Zufall ist, dass der Durchmarsch von Techno parallel mit einer ökonomischen Umwälzung passiert. Spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges veränderte die neoliberale Wirtschaftsordnung die Arbeitsbiografien von fast allen.
Karrieren sind seither nie so linear wie in den Nachkriegsjahren, ein Einkommen reicht nicht mehr für eine ganze Familie. Und diese Unruhe erfasst auch die Mittelschicht. Techno geht mit dieser sozialwirtschaftlichen Nervosität körperlich um und lindert die Symptome.
Technofasnacht in Zürich
Im Mittelalter, sagen manche Historiker, sei der Karneval ein Mittel gewesen, um die Machtverhältnisse für kurze Zeit auszuhebeln.
Tatsächlich haben viele die Street Parade in Zürich Technofasnacht genannt. Vielleicht ist das gar nicht so falsch. Auch musikalisch.
Ich frage noch einmal Nader, den DJ aus Zürich, nach den Wurzeln der Musik. In Detroit hörten die Afroamerikaner Techno meistens als Entwicklung aus anderen Stilen. «Klar ist das afrikanische Musik – das Perkussive, die Loops, die Dauer», sagt Nader.
Doch das Moment der Wiederholung, der Trance, in die man gerät, wenn man auf dem Beat abfährt, das kannte Nader von woanders: «Ich war 16 Jahre alt und ging damals gerne an die Luzerner Fasnacht. Da gab es einen Abend mit Freestyle-Perkussion. Daran musste ich später in den Technoclubs oft denken. An diesen Flow.»
Falls Detroit sich nach einer Partnerstadt umsieht, wir hätten da eine Idee.