«Hip-Hop bedeutet die Welt – man findet ihn heute überall.» Das sagt mir Mighty Mike C auf einer Hip-Hop-Walking-Tour in New York. Seit den späten 1970er-Jahren ist er als Rapper aktiv und organisiert die Touren nebenbei. Aus der Geburtsstadt des Hip-Hops hat er den steilen Aufstieg des Genres miterlebt.
Jay-Z, Kendrick Lamar, Nicki Minaj und sogar der kontroverse Kanye West sind heute aus der Musikwelt nicht mehr wegzudenken. Hip-Hop ringt sich mit der Pop-Musik um den ersten Platz auf der Rangliste der Genres, in den USA ist er längst ganz oben angekommen. Dabei ist Hip-Hop erst vor 50 Jahren entstanden – mitten in einem der ärmsten Stadtteile von New York.
Auf Spurensuche in der Bronx
1520 Sedgwick Avenue sieht auf den ersten Blick aus wie ein beliebiger New Yorker Apartment-Komplex. Ein 18-stöckiges, braun geziegeltes Gebäude mit einer kleinen Eingangshalle. Wie so oft in New York ist der Eingang des Gebäudes gerade von einem Gerüst versteckt. Die Suche nach dem Ursprung des Hip-Hops führt mich an diese Adresse in der Bronx, einem der fünf Stadtbezirke von New York.
Schaut man genauer hin, fallen einige Sachen auf: Auf dem Parkplatz zwischen den Gebäuden ist ein grosses Graffiti, welches DJ Kool Herc gewidmet ist. Unter dem «Sedgwick Avenue»-Strassenschild ist ein weiteres angebracht: «Hip-Hop Blvd». Im Eingangsbereich bei den Briefkästen hängt ein Stück Papier an der Wand: «Der Parkplatz wird aufgrund der 50. Jubiläumsfeier des Hip-Hops am 11. August gesperrt.»
Die Geburts-Party des Hip-Hop
Vor 50 Jahren läutete hier eine Party den Hip-Hop ein. Damals wohnten hier die jamaikanische Teenagerin Cindy Campbell und ihr Bruder Clive. Der 18-Jährige war im Gebäudekomplex dafür bekannt, auf grossen Anlagen laute Musik abzuspielen. Bevor die Schule wieder anfing, wollte Cindy eine Party schmeissen und fragte ihren Bruder, ob er für sie auflegen würde.
Unter seinem DJ-Namen Kool Herc veranstaltete Clive also mit seiner Schwester im Community-Raum des Gebäudes eine Party. Er legte tanzbare Beats auf, MC Coke La Rock rappte dazu, Partygäste tanzten Breakdance und sprayten Graffiti: Die vier Bestandteile, die den Hip-Hop ausmachen.
Diese Grundsteine gab es alle schon, doch erst im Hip-Hop wurden sie auf diese Art vereint und weiterentwickelt. Wie der Rapper Grandmaster Caz sagt: «Hip-Hop hat nichts erfunden. Er hat alles neuerfunden.»
Der Break brachte den Durchbruch
Aufgelegt wurde schon drei Jahrzehnte lang, als DJ Kool Herc an der 1520 Sedgwick Avenue Vinylplatten abspielte. Speziell war aber, dass er dabei den «Break»-Teil der Songs isolierte und wiederholte. Beim Break setzen Melodie und Text aus, nur noch die Perkussion ist zu hören. Indem er diese Breaks aneinanderreihte, erzeugte Kool Herc einen Takt, zu dem es sich gut rappen und tanzen lässt.
Der wohl berühmteste Break stammt aus dem Song «Amen Brothers» der amerikanischen Funk- und Soul-Gruppe «The Winstons». Der «Amen Break» wurde schon in tausenden Songs als Beat verwendet, unter anderem auch im berühmten Hit «Straight Outta Compton» der Hip-Hop-Gruppe N.W.A., die in der Szene an der Westküste der USA gross wurde.
Später kamen im Hip-Hop weitere Techniken dazu, beispielsweise das «Scratching», bei dem laufende Vinylplatten mit der Hand vor- und zurückbewegt werden, um verschiedene Geräusche zu erzeugen.
MCs steigen gegeneinander in den Rap-Ring
Anfangs wurden vor allem kurze Reime vorgetragen, die Menge wurde mit «Ruf und Antwort»-Spielen animiert. An Blockparties in den Quartieren und in Nachtklubs traten MCs auch gegeneinander an. Es wurde aber nicht in den Texten aufeinander geschossen – wer der Menge am besten einheizen konnte, gewann.
Auf der Walking Tour kommen wir am ehemaligen «Harlem World»-Nachtklub vorbei. «Hier wurde Geschichte geschrieben», sagt Mike C. Hier gewann der MC Busy Bee Starski wochenlang Battles, indem er einfache, aber wirkungsvolle Reime vortrug, die oft Scat-Elemente enthielten: die sinnlose Aneinanderreihung von Silben, nur der Melodie wegen.
Das war üblich im MC-ing – bis im Dezember 1981 MC Kool Moe Dee auf die Bühne kam. Er nahm das Mikrofon und rappte: «Hold on, Busy Bee, I don’t mean to be bold, but put that ‘ba-ditty-ba’ bullshit on hold.» Zum allerersten Mal griff ein MC in seinem Text direkt einen anderen MC an. Mike C war dabei: «Es war verrückt. Busy Bee wusste nicht, wie ihm geschah. Es war der allererste Disstrack.»
Für seinen Rap verwendete Kool Moe Dee einen schnellen, ziehenden Wortrhythmus, einen «Flow», den man so noch nie gehört hatte. Das sollte den Rap-Stil im Hip-Hop prägen.
Die Musik als Ausweg
Weit über die musikalischen und künstlerischen Aspekte hinaus ist Hip-Hop eine Kultur, die tief in der Lebenserfahrung der Black und Brown Community in den USA verankert ist. Die Bronx ist ein diverser und sehr benachteiligter Stadtteil New Yorks, in dem viele Menschen mit migrantischem Hintergrund leben. Die Musik dient als Sprachrohr für Missstände in solchen Quartieren und für den Rassismus, den sie täglich erleben.
Gleichzeitig bot Hip-Hop vielen Jugendlichen neue Möglichkeiten. «Hip-Hop war mein Retter», erklärt mir Mike C auf der Hip-Hop-Tour. «Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich tot oder im Gefängnis, weil ich sonst nichts Besseres zu tun hatte.» Sich mit Musik und Kunst zu beschäftigen, hielt viele Jugendliche von der Strasse und von Gangs fern und bereicherte die Quartiere.
Diese transformative Kraft des Hip-Hops haben Künstlerinnen und Künstlern früh erkannt. So wurde beispielsweise in den 1970er-Jahren vom DJ und Rapper Afrika Bambaataa die Organisation «Universal Zulu Nation» gegründet, die sich durch Hip-Hop für soziale Gerechtigkeit einsetzt.
Mittlerweile existiert ein dichtes Netzwerk solcher Organisationen. Viele Hip-Hopperinnen zählen deswegen das geteilte Wissen und die Community zu den Grundbestandteilen ihrer Kultur.
Der Hip-Hop-Grossvater von New York
Am 50. Geburtstag des Hip-Hops wird nicht nur gefeiert, sondern auch über die Kultur reflektiert. In Queens besuche ich den «Hip Hop 50 Summit», an dem viele der frühen und wichtigen Namen der New Yorker Hip-Hop Community anwesend sind.
Im Gang legt ein DJ auf, es bricht eine spontane Breakdance-Party aus, Kinder einer Schulklasse nehmen johlend teil. Im Theater ist ein Freestyle-Battle im Gang, eine Künstlerin malt auf der Bühne ein Graffiti-Kunstwerk. Es finden Panels rund um Hip-Hop statt.
Nach einem Panel zu Hip-Hop und sozialer Gerechtigkeit treffe ich Paradise Gray. Er ist seit den 1970er-Jahren Promoter und Booking Agent von verschiedenen Hip-Hop-Künstlern und hat den berühmten «Latin Quarter» Nachtklub geführt. «Ich bin der Hip-Hop-Grossvater von New York – Grandpop Paradise!» sagt er schmunzelnd, und wird auch von vielen so angesprochen.
Paradise Gray ist auch der Hauptkurator des «Universal Hip Hop Museums», welches im Sommer 2024 ein neues Zuhause in der Bronx bekommt. Was jetzt noch eine Baustelle ist, soll zu einem Ort werden, an dem die Geschichte des lokalen und globalen Hip-Hops zelebriert und erhalten wird.
Das Museum soll für alle Menschen etwas bieten, findet Gray: «Jede Person, die schon einmal Unterdrückung erlebt hat, kann einen Bezug zu Hip-Hop haben, denn Hip-Hop ist die ultimative Musik des Kampfs gegen Unterdrückung.»
Vom Boys Club zu den Rap-Queens
Trotz dieser hochgepriesenen Universalität fällt auf: Es gibt deutlich weniger prominente Frauen und queere Menschen in der Szene. Nicht selten kommen in Songtexten frauenfeindliche und homophobe Ausdrücke vor, Hip-Hop wird oft als «Boys Club» kritisiert.
Doch ohne die einflussreichen Frauenstimmen von Sha-Rock, Queen Latifah oder Missy Elliott ist Hip-Hop unvorstellbar. Schon seit den späten 1970er-Jahren haben Frauen am Mikrofon und DJ-Pult mitgewirkt und die Szene geprägt – auch hinter den Kulissen. DJ Kool Hercs Schwester Cindy Campbell tanzte an der 1973-Party Breakdance und hatte ihr eigenes Graffiti-Tag.
Der 1989er-Hit «Ladies First» von Queen Latifah und Monie Love erschien während einer Zeit, in dem die zweite Welle des Feminismus auch im Hip-Hop ankam. Monie Love erzählte kürzlich: «Ich wollte einfach gute Reime raushauen. Aber Latifah hatte die Vision – sie wollte eine Hymne für starke Frauen schreiben.»
Die Pionierinnen im Hip-Hop haben für ihre Nachfolgerinnen den Weg geebnet. Mittlerweile gibt es unter den grössten Hip-Hop-Stars auch Frauen, zum Beispiel die «Queen des Raps» Nicki Minaj, welche ihre Identitäten und erlebte Unterdrückung in ihren Texten behandeln. Als ich Paradise Gray dazu frage, meint er: «Wo wären wir ohne unsere Frauenstimmen? Ohne unsere Queens?»
Die Multimilliarden-Industrie
Auch die Gruppe von Tourguide Mighty Mike C hat Pionierarbeit geleistet: «The Fearless Four» unterschrieb als erste Hip-Hop-Gruppe einen Vertrag mit einem grossen Label. «Vor uns wollten die grossen Labels nichts mit Hip-Hop zu tun haben. Man wurde nur von kleinen, familienbetriebenen Labels vertreten», erklärt Mike C.
Doch die heutigen Hip-Hop-Stars der grossen Labels scheinen mir weit entfernt von den Menschen, die ich am Summit treffe. Während des Panels zur Kommerzialisierung wird klar: Auch die Community in New York spürt die Distanz zu den grossen Künstlerinnen und Künstlern. Eine Panelistin redet vom Unterschied zwischen Hip-Hop als Kultur und «einfach nur Rap-Musik».
Paradise Gray fasst es so zusammen: «Es gibt den Hip-Hop – der gehört uns und wird immer uns gehören. Er ist etwas Partizipatives, man nimmt an der Kultur teil und gibt der Community etwas zurück. Und dann gibt es die Rap-Musik-Industrie.»
Diese Multimilliarden-Industrie folge den Regeln des Kapitalismus: Es würde vor allem das gepusht, was den Labels Profit einbringe. So würde der Hip-Hop seine Wurzeln vergessen und an Ausdruckskraft verlieren, kritisieren einige beim Panel. Andere widersprechen: Auch die Texte grosser Künstler seien prägnant und ihr Erfolg würde zeigen, wie weit der Hip-Hop es schon geschafft hat.
Die Musik folgt der Community
Hip-Hop hat viel erreicht in seinen ersten 50 Jahren. Angefangen bei einer Teenager-Party in der Bronx, hat er heute die Welt erobert. In der Musik, in modernen Tanzstilen, DJ-Techniken und in der Sprache finden sich seine Einflüsse. Unzählige Subgenres und Subkulturen sind daraus hervorgegangen. Manche blicken nostalgisch auf die Anfänge zurück, andere sehen erwartungsvoll oder besorgt in die Zukunft.
Paradise Gray ist optimistisch: «Hip-Hop wird dorthin gehen, wo die Menschen und die Community hingehen.» Auch Mighty Mike C freut sich auf das, was noch kommt: «Ich glaube, Hip-Hop wird noch grösser. Aber beim hundertsten Jubiläum werde ich wohl nicht mehr dabei sein. Deswegen geniesse ich es jetzt – und zelebriere den Hip-Hop!»