Es fängt schon zu Lebzeiten an. Ludwig van Beethoven ist ein Star. Und wie über jeden Star kursieren auch über ihn Anekdoten. Geschichten, deren Wahrheitsgehalt oft dünn ist.
Je banaler die Begebenheit, desto überlegener wirkt dabei der angehimmelte Komponist. Leben, aber auch Werk Beethovens werden fiktionalisiert.
Beethoven, der Rüpel
So beschreibt etwa der schottische Reiseschriftsteller John Russell, wie Beethoven in einem Gasthaus sitzt und «in einem Winkel Wein und Bier trank, Käse und Bücklinge ass».
Als ein Mann den Gasthof betrat, dessen Gesicht Beethoven nicht zusagte, habe er diesen mehrmals angespuckt und sei mit dem Ausruf «was für eine schurkische Fratze» aus dem Lokal gelaufen. Mit solchen Geschichten wurde das bis heute wirksame Klischee des mürrischen Beethoven geschaffen.
Der Schritt vom Anekdotischen in die Literatur und später in den Film ist klein. In Bernard Roses «Immortal beloved» (1994) sieht man einen jähzornigen Beethoven poltern, schreien, Stühle aus dem Fenster werfen.
Anekdotenhonig ist das, klebriger, den auch die Leistung des beeindruckenden Beethoven-Darstellers Gary Oldman nicht zu überdecken vermag.
Wo das Klischee seinen Anfang nahm
Ausgerechnet in einer Musikkritik hat die literarische Beethoven-Rezeption ihren Anfang. In einem Genre, dem man eigentlich Objektivität zutrauen möchte.
Nicht so bei dem Romantiker E.T.A. Hoffmann. Seine Rezension der 5. Sinfonie ist mehr als blosse Beschreibung. Diese Musik, so Hoffmann, führe ins «Ungeheure und Unermessliche».
Beethoven erscheint hier selbst wie ein Mechaniker unserer Seele, der «die Hebel der Furcht, des Schreckens, des Entsetzens» bewegt. Hinter der «ungeheuren» Musik steht also eine Überfigur, die uns im Innersten bewegen soll. Hoffmanns Rezension war folgenreich. Beethovens Sinfonik muss den Unermesslichkeits-Topos bedienen. Ebenso ihr Schöpfer.
Wer war er wirklich?
Die Person eines Künstlers zu fiktionalisieren – warum ist das so risikobehaftet? Anders als in Büchern und Filmen über Politiker, bei Helden- oder Entdeckerbiografien, funkt hier etwas störend dazwischen: die Kunst. Mit ihrer ganzen Mehrdeutigkeit und – vor allem – dem gefährlichen Potenzial, ihre Schöpfer zu überhöhen.
Bei Victor Hugo etwa ist Beethoven ein «geheimnisvoller Seher», der «Sphärenharmonie» komponiert. In Wladimir Odojewskis Erzählung «Beethovens letztes Quartett» wird Beethoven, seiner eigenen Musik lauschend, von seiner Ertaubung geheilt. Ein Magier der Klänge also.
Die Sonate ist schuld
Eine andere Lösung hat André Gide in seiner Erzählung «Symphonie pastorale» gefunden. Oder Leo Tolstoi in der Novelle «Kreutzersonate»: Beide haben den Komponisten einfach weggelassen. Beethovens 6. Sinfonie, die «Pastorale», ist das idyllische Gegenstück einer Geschichte von Schuld und unmöglicher Liebe. In der wilden Musik der Kreutzersonate, benannt nach Beethovens 9. Violinsonate, spiegelt sich ein Eifersuchtsdrama mit Mord.
In der Geschichte der «Kreutzersonate» verteufelt nämlich der betrogene Ehemann und Mörder Posdnyschew die Musik: Seine Frau und ihr Mitspieler auf der Geige hätten zu einer künstlerischen Tiefenerotik gefunden, die er nicht versteht. «Was für ein furchtbares Ding, diese Sonate», schreit Posdnyschew, «was für eine entsetzliche Sache».
Beethoven als Figur kommt weder bei Gide noch Tolstoi vor. Seine Musik, die «Hebel des Entsetzens», ist zwar nach wie vor darin wirksam. Doch der Schritt vom Anekdotischen ins Fiktionale ist – erfolgreich – getan.