Wollte man kalauern, könnte man sagen, dass viele Musikschaffende den Titel des Festivals gerade sehr ernst nehmen: «The Great Escape» – die grosse Flucht. An die 500 Bands hätten beim gleichnamigen Festival im englischen Brighton auftreten sollen, über ein Viertel der Acts ist nun aber abgesprungen.
Der Grund: Einer der Hauptsponsoren, die Bank Barclays, soll mit Unternehmen Geschäfte betreiben, die Waffen an Israel liefern. Barclays hat die Vorwürfe zurückgewiesen, die Festivalleitung schweigt.
Sponsor als Zielscheibe
Dass so viele Bands abgesprungen sind, dürfte nicht nur damit zu tun haben, dass sie politisch Farbe bekennen wollten, sondern auch mit einem zunehmenden Druck, sich positionieren zu müssen. Im April unterschrieben rund 300 Musikschaffende einen öffentlichen Brief, in dem sie das Great-Escape-Festival aufforderten, sich von Sponsor Barclays zu trennen.
Bekannte Acts wie Massive Attack oder Brian Eno fordern Musikschaffende dazu auf, die Grossveranstaltung zu boykottieren, obwohl sie selbst gar nicht dort aufgetreten wären. Auf den Brief folgend sagten erste Acts ihren Aufritt ab und forderten andere dazu auf, es ihnen gleichzutun. «So kommt eine Art Boykott-Spirale in Gang, wobei viel moralischer Druck aufgebaut wird», sagt Popkritiker Klaus Walter.
Das zeigt auch das öffentliche Statement von Massive Attack: «Es ist erstaunlich, dass Veranstalter und Festivals im Jahr 2024 immer noch nicht verstehen, dass unsere Musik käuflich ist, unsere Menschlichkeit und Moral aber nicht.»
«The Great Escape» ist nicht einfach nur ein Festival, sondern auch ein Treffen der internationalen Musikbranche. Acts, die noch nicht bekannt sind, bekommen hier eine wichtige Präsentationsplattform. Es kann etwas unfair wirken, wenn gestandene Acts wie Massive Attack, welche über ausreichend Auftrittsmöglichkeiten verfügen, Neulinge zum Boykott aufrufen.
#Blockout2024
Positionierungsdruck herrscht auch in den sozialen Medien. Auf Plattformen wie X, TikTok und Instagram kursiert der Hashtag #Blockout2024 – eine Art Erpressung, die sich gegen Musikschaffende und Prominente richtet. Die Kardashians, Beyoncé, Harry Styles und Shakira sahen sich alle schon mit «Blockout2024» konfrontiert.
Die Stars sollen ihre Berühmtheit dafür nutzen, um auf den Gaza-Krieg aufmerksam zu machen. Wer sich nicht positioniert, dessen Inhalte werden geblockt. So verliert die Person Reichweite und somit auch Einnahmen. Die Zeit sei gekommen, die digitale Guillotine einzuführen, kurz «Digitine», schreibt eine Nutzerin auf TikTok.
Erpressungslogik und «Infowar»
Prominente werden aber nicht nur geblockt, sondern auch mit Bildern von kriegsversehrten Kindern konfrontiert. Damit soll die politische Meinung der Promis in die vermeintlich richtige Richtung gelenkt werden. «Solche Bilder sind Waffen eines Infowars, eines Desinformationskrieges, der auf einer Erpressungslogik fusst», sagt Klaus Walter.
Musikschaffende und Promis profitieren normalerweise von den Mechanismen sozialer Medien. Wer sich aktuell nicht politisch positionieren will, erlebt gerade, wie der Algorithmus zum Bumerang werden kann. Manche geben nach, wenn sie öffentlich an den Pranger gestellt werden und beziehen politisch Position. Aber kommt dabei etwas Konstruktives heraus, das den Konflikt im Nahen Osten in irgendeiner Form weiterbringt?