Am Eröffnungskonzert des Lucerne Festivals am Freitagabend im KKL: Sowohl die Prominenten auf dem roten Teppich als auch das internationale Orchester im Saal sind weitgehend weiss.
Vom Festivalmotto «Diversity» spürt man wenig. Stattdessen erlebt man das Gewohnte: Westliche klassische Musik gibt es zwar auf der ganzen Welt, in Europa und in den USA wird sie aber fast nur von weissen Menschen gespielt.
Erst langsam wächst das Bewusstsein, dass hier etwas falsch läuft. Darum gibt es zur Diversität in der klassischen Musik kaum Studien. In Grossbritannien seien People of Color mit nur einem Prozent in klassischen Ensembles und Orchestern vertreten, sagt die britische Kontrabassistin Chi-chi Nwanoku, obwohl 15 Prozent der dortigen Bevölkerung einen ethnisch oder kulturell diversen Hintergrund haben.
Die Klassikbranche ist nicht divers
Nwanoku sei stets die einzige nicht-weisse Musikerin auf der Bühne gewesen, bis sie 2015 das «Chineke! Orchestra» gegründet habe. Es ist das erste Orchester in Europa, das sich mehrheitlich aus Musikerinnen und Musikern zusammensetzt, die nicht weiss sind. Anfang September tritt es am Lucerne Festival auf.
«Das Problem beginnt bei der Chancengleichheit», sagt Chi-chi Nwanoku. «Ein Instrument zu lernen, kostet viel Geld. Familien von People of Colour fehlt dieses Geld, weil sie in Europa noch oft die Arbeiten verrichten, die schlecht bezahlt werden».
Nwanoku selbst kam zur Musik, weil in ihrer Schule ein Blockflötenensemble gegründet wurde. Solche niederschwelligen Angebote in staatlichen Schulen brauche es, um People of Colour den Zugang zu Musik zu ermöglichen, so Nwanoku.
Weisser, männlicher Kanon
Auch auf den Konzertprogrammen stehen zu 90 Prozent Werke von weissen, männlichen Komponisten. Das «Chineke! Orchestra» dagegen führt die Musik von «Klassikern» gleichberechtigt mit Werken von Menschen auf, die in der Musikgeschichte marginalisiert wurden: Jenen, die nicht weiss, cis und männlich sind.
Um diese Komponistinnen und Komponisten zu finden und ihre Werke zu verlegen, bedarf es gründlicher Archivarbeit. Während ein Wolfgang Amadeus Mozart in allen Konzertsälen der Welt präsent ist, geriet zum Beispiel sein schwarzer Zeitgenosse Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, völlig in Vergessenheit. Geblieben ist nur sein Beiname, der «Schwarze Mozart» – obwohl seine Kompositionen den jungen Mozart beeinflusst haben und nicht umgekehrt.
Neues Repertoire für altbekannte Stars
Das Programm des Lucerne Festivals zeigt die Vielfalt des Klassikbetriebes wie kaum ein anderes europäisches Klassikfestival dieser Grösse: Insgesamt sind Werke von 16 schwarzen Komponistinnen und Komponisten zu erleben – darunter auffallend viele Schweizer Erstaufführungen. Das zeigt, dass sich hierzulande bisher niemand um dieses Repertoire bemüht hat.
Jährlich lädt das Lucerne Festival zwei herausragende Interpretinnen und Interpreten als «artistes étoiles» ein. In diesem Jahr sind es die international erfolgreiche Sopranistin Golda Schultz aus Südafrika und Tyshawn Sorey, ein afroamerikanischer Jazzmusiker, Komponist und Multiinstrumentalist.
Am Festival wird Musik von 24 Komponistinnen gespielt, immerhin sieben Frauen dirigieren. Sein Versprechen, Frauen und People of Color eine Bühne zu geben, löst das Festival damit gewissermassen ein.
Problematisches Motto
Aber braucht es ein Label wie «Diversity», um diese erstklassigen Künstlerpersönlichkeiten zu engagieren? Während weisse, männliche Komponisten für sich selbst und ihre Kunst sprechen dürfen, entsteht bei diesem Motto das Risiko, den Künstlerinnen die Rolle aufzudrücken, eine Gruppe von sehr verschiedenen Menschen repräsentieren zu müssen.
Der Intendant Michael Häfliger möchte mit dem Motto zur Diskussion anregen – und das ist ihm gelungen. Doch nach wie vor sind die Stars und Publikumsmagnete des Festivals männlich oder weiss. Und in ihren Programmen findet sich wiederum viel gängiges Repertoire.
Ausnahmen gibt es nur wenige: Dass Anne-Sophie Mutter Musik von Joseph Bologne in ihr Repertoire aufnimmt oder Yannick Nézet-Séguin eine Sinfonie der schwarzen Komponistin Florence Price in Luzern dirigiert, scheint ein Glücksfall.
Veränderung braucht Gemeinschaft
Trotzdem kann spätestens nach dieser Festivalausgabe niemand mehr behaupten, es gebe keine People of Colour, die auf Spitzenniveau musizieren oder komponieren. So steckt im Festivalmotto der Ansporn, die Programme zukünftiger Festivalausgaben konsequent divers zu gestalten.
Zum Vergleich: 2016 dirigierten in Luzern während der «Primadonna»-Ausgabe elf Frauen, seitdem gab es auch eine Ausgabe ohne eine einzige Dirigentin.
Das Motto bringt die Verantwortung mit sich, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen: Die Generalleitung des Lucerne Festivals hat Michael Häfliger allein inne, seit mittlerweile 23 Jahren.
«Diversity» ist aber nicht nur ein Schlagwort, sondern muss in die Strukturen einer Institution hineinwirken. Auch im Management und an den Schaltstellen des Musikbetriebes braucht es sichtbare Vorbilder und People of Colour. Das gilt auch für das Lucerne Festival.
Ein Schritt Richtung Veränderung wäre, Entscheidungsmacht abzugeben – so wie es der Herbst-Ableger des Lucerne Festivals, das 2021 gegründete «Forward», vormacht.
Dort verantwortet ein internationales, jährlich wechselndes Kollektiv aus dem internationalen Netzwerk der Lucerne Festival Academy das Programm. Das Ergebnis ist nicht nur divers, sondern auch glaubwürdiger – denn es kommt ganz ohne plakative Mottos aus.