Zum Mythos der Rockmusik «Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll» gehören auch die Groupies. Viele Frauen empfanden es früher als Akt der Emanzipation, mit berühmten Männern Sex zu haben. Einige von ihnen, etwa Lori Maddox, Pamela des Barres und Uschi Obermaier, sind bis heute fester Teil der Musikgeschichte.
Auch Roxana Shirazi war in der Groupie-Szene unterwegs. Die heute 49-Jährige hat Anfang der 2000er-Jahre viele Rockstars kennengelernt, hatte Beziehungen mit Mitgliedern von Guns N’Roses, Skid Row oder Buckcherry und war mit diversen Bands auf Tour. Später hat sie sogar ein Buch geschrieben über ihre Erfahrungen.
Geblendet vom Rockstar-Mythos
Dabei wurde sie eher zufällig zum Groupie, zunächst war Roxana Shirazi lediglich Rockfan. Shirazi wurde im Iran geboren und flüchtete mit ihrer Grossmutter in den 1980er-Jahren nach der iranischen Revolution nach Grossbritannien. Da war sie erst zehn Jahre alt.
Sie fühlte sich einsam in dem neuen Land. Musik gab ihr ein Gefühl der Sicherheit und Zugehörigkeit. Mit 14 Jahren verliebte sie sich dann in die Rockmusik. «Für mich war das ein Ort der Rebellion, wo man einfach wild und verrückt sein darf. Das hat mich angezogen.»
Als sie Mitte 20 ist, lud eine Freundin sie zum Abendessen ein. Deren Freund war der damalige Manager der Band Stereophonics. Der Drummer der Band, Stuart Cable, war auch da. Und er machte mächtig Eindruck auf Roxana Shirazi: «Ich hatte nie zuvor jemanden wie ihn getroffen: Er war ein Freigeist – wild, lustig, charismatisch und verrückt. In dieser Nacht hatte ich Sex mit ihm.»
Roxana Shirazi möchte am Rockstar-Lifestyle teilhaben: ging an Konzerte, wartete vor dem Tourbus auf die Band oder sprach die Security an: «Auf die Frage ‹Wer zum Teufel bist du?› habe ich geantwortet: ‹Ich bin das Entertainment der Band. Lass mich rein!›»
Sie tun alles, um ihren Idolen zu gefallen
Doch um Musiker zu treffen und mit ihnen Spass – insbesondere Sex – zu haben, gab sie sich als jemand anderes aus. Sie sei eigentlich ein Bücherwurm gewesen, sagt sie. Aber: «Wenn ich dort als intellektuelle Streberin aufgetaucht wäre, hätte ich niemals so viel Sex haben können, wie ich wollte. Ich erzählte, ich sei Italienerin – bin aber Iranerin. Ich erzählte, ich sei Stripperin. Doch ich war Journalistin und Autorin», erklärt Shirazi.
Du hast als Frau in dieser Szene keine Rechte. Es gibt kein Mitgefühl.
Roxana Shirazi versuchte, einem Groupie-Stereotyp zu entsprechen. Dabei würde sie sich selbst gar nicht als Groupie bezeichnen. «Ich bin zu wild, um ein Groupie zu sein!» Den Begriff des Groupies empfand sie als einschränkend. Sie wollte genauso viel Spass haben wie die Rockstars und sich nicht in eine unterwürfige Rolle fügen. «Ich wollte diejenige sein, die sich die Männer aussucht. Ich wollte tun, was Rockstars taten – verrückt sein und rebellisch.»
Ursprung in der sexuellen Revolution
Ein Groupie ist meist ein weiblicher Fan, der mit der Group – also der Band – herumhängt und seinen Idolen möglichst nahe sein möchte. Das heisst nicht immer Sex. Aber oft.
Seinen Ursprung hat das Groupie-Dasein in der sexuellen Revolution Ende der 1960er-Jahre: mit der Befreiung von althergebrachten Moralvorstellungen. Groupies standen damals für den Ausbruch aus patriarchalen Strukturen. Sie entschieden sich für das wilde, freie Leben an der Seite berühmter Musiker. Und doch führte sie das oft vom sexistischen Regen in die misogyne Traufe.
Die Kehrseite der Medaille
Auch Roxana Shirazi hat die Schattenseiten des Groupie-Seins miterlebt. Anfang der 2000er-Jahre brach sie die Groupie-Regel-Nummer-1 und verliebte sich: In Dizzy Reed, den damaligen Keyboarder der Hard-Rock-Band Guns N’Roses. «Dizzy hat mich mit Liebe überschüttet. Dann war ich schwanger und plötzlich verdrehte er alles. Er hat mir furchtbare Nachrichten geschrieben.» Roxana Shirazi spricht von emotionalem Missbrauch, von Psychoterror. Auf Druck des Musikers trieb sie ab.
Ihre Mutter und ihre Freunde unterstützten sie. Gleichzeitig bekam sie zu spüren, wie frauenfeindlich der Rock ’n’ Roll ist. «Die Rock-Community hat mich wie einen Menschen zweiter Klasse behandelt», sagt Shirazi. «Du hast als Frau in dieser Szene keine Rechte, du darfst nicht über deine Erlebnisse sprechen oder dich gar beschweren. Es gibt kein Mitgefühl.»
Für sie sei damals eine Welt zusammengebrochen, so Shirazi: «Ich dachte immer, Rock ’n’ Roll sei ein freigeistiger und glücklicher Ort für alle, nicht nur für Männer.»
Weibliche Fans werden als naiv wahrgenommen
In der Figur des Groupies überlagern sich Momente der Emanzipation und Momente der Ausbeutung. Ermöglicht wird dies durch ein Machtgefälle, das seit jeher zwischen Stars und ihren Fans besteht, erklärt Sonja Eismann. Die Kulturwissenschaftlerin beschäftigt sich mit Machtmissbrauch in der Rock- und Popkultur.
Zum Rockmythos «Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll» gehöre ein heroisches Bild des männlichen Rockstars. Dass dieser Grenzen überschreite und seine Macht ausnutze, erscheine vielen auch 2023 noch völlig normal, so Eismann.
Stereotypisierungen von weiblichen und männlichen Fans, trügen ausserdem zur Legitimierung dieses Rocker-Bildes bei: «Weibliche Fans werden immer als emotional naiv wahrgenommen, männliche eher als Fans der Sache und nicht als blinde Bewunderer eines Idols.»
Soll heissen: Der weibliche Fan wird schnell als Groupie abgestempelt, der eine romantische Beziehung zu einem männlichen Star sucht. «Das unterstellt man männlichen Fans nie. Bei ihnen geht es stattdessen darum, dass sie eine tolle Expertise haben, alle Gitarrenriffs und Songs kennen und irgendwelche Spezial-Vinylpressungen zu Hause haben.»
Macht, Emotion, Manipulation
Für weibliche wie männliche Fans mag es wie das grosse Glück erscheinen, wenn sie am Konzert mit ihren Idolen in nahen, mitunter hautnahen, Kontakt kommen dürfen. Zum Problem wird das dann, wenn ihre Begeisterung und Naivität ausgenutzt und sie manipuliert werden. Oder gar Drogen im Spiel sind – wie bei der Band Rammstein. So lauten zumindest die Vorwürfe gegen den Frontmann Till Lindemann.
Aktuell werden die Frauen, die von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt rund um Backstage-Partys an Konzerten der Band berichten, von einem Grossteil der Rammstein-Fans und teilweise auch von Medienschaffenden angegriffen. Die Frauen hätten wissen müssen, worauf sie sich einlassen, so die Vorwürfe.
Sonja Eismann stellt hier die Gegenfrage: «Warum ist es für Männer völlig normal, auf eine Backstage-Party zu gehen und ihre körperliche Integrität gewahrt zu sehen, für Frauen aber nicht? Das ist eine unmögliche Argumentation, wo doch mittlerweile alle vom Konsensprinzip gehört haben sollten.»
Die Fälle verpuffen häufig
Die Kulturwissenschaftlerin geht davon aus, dass in der Rock- und Popmusik seit jeher weibliche Fans für männliche Stars rekrutiert worden sind – mal straffer, mal loser organisiert. «Ich kann mir vorstellen, dass da noch sehr viel ans Tageslicht kommt, was wir uns bis jetzt gar nicht vorstellen können.»
Doch selbst nach strafrechtlichen Verurteilungen – das zeigen vergangene Beispiele – gab es kaum nachhaltige Konsequenzen für mutmassliche oder nachgewiesene Täter. Schon in den 1970er-Jahren gab es sehr problematische Momente in der Groupie-Kultur. Musiker wie Iggy Pop und David Bowie brüsteten sich damit, mit minderjährigen Mädchen, sogenannten Babygroupies, Sex gehabt zu haben. Eine klare Straftat.
Auch die Rock ’n’ Roll-Szene ist kein rechtsfreier Raum.
In jüngerer Zeit gab es Missbrauchsvorwürfe oder Urteile gegen Musiker wie Michael Jackson, den Arcade-Fire-Sänger Win Butler, R’n’B-Sänger R. Kelly oder den Schock-Rocker Marilyn Manson. Doch die mediale Aufmerksamkeit sorgte in den meisten Fällen dafür, dass ihre Musik wieder mehr gehört wurde. Auch die Rammstein-Alben sind gerade in den Charts aufgestiegen, wie der Spiegel recherchiert hat. Von einem Karriere-Ende keine Spur.
Es braucht den Druck der Öffentlichkeit
Sonja Eismann sieht eine Art Strategie darin, Debatten wie diese einfach auszusitzen: «Da ist die Hoffnung, dass irgendwann neue Dinge medial präsenter sind und mehr interessieren.»
Für die Kulturwissenschaftlerin bräuchte es ein neues Bewusstsein für die Problematik des Machtgefälles in der Pop- und Rockmusik und Strukturen zur Kontrolle. «Die Stars sind derzeit in gewisser Weise frei in ihrem Agieren. Sie werden hofiert, weil mit ihnen sehr viele Leute Geld verdienen.» Und wo sich niemand beschwert, da gibt es auch keine Anklage.
Das werde sich nur ändern, wenn es viel Druck von der Öffentlichkeit gibt. «Wenn wir Leute zur Verantwortung ziehen und klarmachen, dass das kein rechtsfreier Raum ist. Auch dann nicht, wenn es diesen Rock ’n’ Roll-Mythos gibt.»