Allein in der Schweiz werden diesen Sommer rund zehn Millionen Konzerttickets angeboten. Es gibt kaum einen konzertfreien Tag – dafür Termine, die gleich mehrfach belegt sind.
Im Sommer ist das Programm hierzulande immer dicht. Aber dieses Jahr ist das Angebot noch grösser als sonst, weil viele Veranstaltungen nachgeholt werden.
«Anspruchsvoller als normalerweise»
Um Festivals, Stadionkonzerte und Grossevents auf die Beine zu stellen, braucht es Leute, die sich mit Planung und Management auskennen. Es braucht tausende freiwillige Helferinnen und Helfer, dazu Busfahrer, Backliner, Stagehands, Zeltbauerinnen und Techniker, die schon Wochen vor einem Event mit ihrer Arbeit loslegen.
Und so liefen vorletzte Woche vor Festivalstart auch die Vorbereitungen für das Openair St. Gallen auf Hochtouren im Sittertobel. Bier wird angeliefert, die Bühnen mit Technik ausgestattet, die letzten Plakate und Informationstafeln werden aufgehängt.
Jan Lemmenmeier von der Firma Stagelight AG richtet mit seinem Team gerade eine Bühne ein. Sie kümmern sich um das Licht und die Videotechnik, hängen Traversen und Lampen auf. «Ich liebe meinen Beruf, ich liebe unsere Branche, auch wenn sie momentan ein bisschen anspruchsvoller ist als normalerweise», sagt Lemmenmeier.
Der Techniker ist bei der Stagelight AG auch Personaldisponent. Momentan stehe weniger Personal zur Verfügung, sagt er. «In der Pandemie sind einige Leute aus der Branche abgesprungen und haben sich anderweitig orientiert.»
Abwanderung in andere Branchen
In den beiden vergangenen Jahren sind in der Schweizer Eventbranche fast 6000 Stellen verloren gegangen. Agenturen mussten schliessen, Fachleute, Technikerinnen und Zulieferer wechselten die Branche.
Reto Scherrer ist Geschäftsführer der Wick Audio AG und erlebt die Personalknappheit derzeit am eigenen Leib. Dieses Jahr gebe es zwar genug zu tun, doch es fehlten die Arbeitskräfte.
Vor einer Woche war es noch das blanke Chaos.
«In der Schweiz spricht man von 30 Prozent, die fehlen», sagt Scherrer. «Ich könnte momentan sieben Tage die Woche 24 Stunden arbeiten und wäre immer noch nicht fertig.» Er habe diesen Sommer viele Aufträge absagen müssen. Das sei in den Jahren vor Corona selten der Fall gewesen.
Auch die steigenden Kosten und Lieferengpässe im Zusammenhang mit Corona und dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seien eine Herausforderung. In der Veranstaltungstechnik werde vieles in Osteuropa und in Asien produziert.
«In Lautsprechern oder Mischpulten ist viel Holz und Stahl drin», sagt Reto Scherrer. «Das ist ein Problem. Wir haben viele Lieferanten, die uns gar keine Liefertermine mehr bekannt geben.»
Lieferengpässe und Mehrkosten
Am Openair St. Gallen organisiert Bauchef Mica Frei das Bau- und Aufbau-Material, das für das Festival nötig ist: Zelte, Container, Gerüstbauten, Bühnen.
Dieses Material zu beschaffen, sei dieses Jahr viel aufwändiger gewesen, erzählt Frei. Sanitär- und Bürocontainer werden in der Ukraine und den Nachbarländern als Unterkünfte für Geflüchtete gebraucht. Auch das habe direkte Auswirkungen auf die Veranstaltungen.
«Vor einer Woche war es noch das blanke Chaos. Früher hatten wir eine Woche Lieferzeit, heute sind es nur drei bis vier Wochen.» Darum dürfe er sich zurzeit keinen Fehler erlauben. «Du hast keine Chance, den wieder auszubügeln.»
Da viele Veranstaltungen in den Sommer geschoben wurden, sei das Material knapp. «Die Planen für unseren Mischerturm sind zum Beispiel erst heute Morgen eingetroffen. Ich hoffe, die stimmen alle, nur dann wird es morgen funktionieren.»
Konzertstau und Absagen
Das Openair St. Gallen konnte wie geplant über die Bühne gehen. Doch der Konzertstau macht diesen Sommer vielen Veranstaltenden Sorgen. Ganze Festivals wurden schon abgesagt, so das Blue-Balls-Festival in Luzern.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Es lag nicht nur am fehlenden Personal und Material, manchmal konnten die Verkaufszahlen die Kosten nicht decken, und es gab auch krankheitsbedingte Ausfälle. Das Konzert der Rolling Stones in Bern fiel wegen Mick Jaggers Corona-Erkrankung ins Wasser, aus demselben Grund trat Metallica nicht bei «Out in the Green» in Frauenfeld auf.
Das alles bedeute einen organisatorischen Mehraufwand und im schlimmsten Fall ein Loch in der Kasse, sagt Nicole Roten, Mitinhaberin der Agentur Moonstruck Artist Services GmbH: «Man hat in einer Saison budgetiert, die nun erst zwei Jahre später realisiert wird. Das kann einen gewissen Druck generieren.»
Eine Übergangsphase
Nicole Roten befürchtet, dass durch die grosse Konkurrenz in diesem Sommer vor allem kleine Festivals und Konzertveranstaltungen auf der Strecke bleiben.
Die Booking-Dichte führe dazu, dass das Publikum zum Teil zwei oder drei Tickets für ein Datum habe, sagt Roten. Für einen kleinen Event, der nicht das grosse Marketingbudget oder die riesigen Namen im Programm habe, könne das dieses Jahr sehr herausfordernd sein. «Hoffentlich verlieren wir sie nicht, denn sie sind wichtig für die kulturelle Vielfalt.»
Auch Mica Frei vom Openair St. Gallen hofft, dass die Eventbranche einigermassen heil durch den Sommer 2022 kommt und sich dann ab 2023 alles wieder einpendelt. «Ich hoffe, dass wieder so viele Leute Spass an der Branche kriegen, dass die Jobs wieder besetzt werden können.»
Auch das Preisgefüge müsse sich stabilisieren. «Da haben wir in diesem Jahr einen Riesensprung erlebt. Die Benzinpreise schlagen sich auf uns nieder, die Transportkosten sind massiv gestiegen.»
Und dann stellt sich auch noch die Frage nach dem Publikum, sagt Nora Fuchs von der Festivalleitung des Openairs St. Gallen: «Die Unterstützung vom Publikum ist schön und wichtig in dieser Phase. Ich hoffe, dass wir so auch wieder auf den Stand vor der Pandemie kommen.» Wie in vielen Branchen wird 2022 also auch in der Eventbranche ein Übergangsjahr sein.