Bryce Dessner lebt in zwei Welten: An einem Abend steht er auf einer Bühne vor einem Meer aus Tausenden von Menschen – mit seiner E-Gitarre und der von ihm mitgegründeten, weltweit erfolgreichen Indierock-Band The National.
An einem anderen Abend sitzt er still im prächtigen Konzertsaal der Tonhalle Zürich und hört aufmerksam zu, wenn das Orchester sein Stück «Mari» spielt.
«In der klassischen Musik liegen die Wurzeln von allem, was ich mache», sagt der 48-jährige Komponist und Rockstar im Gespräch.
Zuerst spielte er Flöte, Musik von Johann Sebastian Bach oder Debussy etwa.
Dann wechselte er zur klassischen Gitarre. Auch da standen Werke von Bach auf seinem Notenpult, sowie spanische oder Renaissance-Musik.
Komponierender Tausendsassa
Dessners Karriere in und mit The National ging nebenher weiter, auch als er schliesslich klassische Gitarre und Komposition in Yale studierte. Mittlerweile ist er mit beidem weltweit erfolgreich – auf diesem Niveau ist das eine einmalige Kombination.
Meine Orchestermusik ist wie eine reine Version von mir.
Er schreibt Hits für seine eigene Band, orchestriert auch mal einen Song für Taylor Swift oder schreibt als klassischer Komponist für renommierte Ensembles und Orchester. Diese Saison etwa ist er Creative Chair beim Tonhalle-Orchester Zürich.
So konnte er hier bereits mehrere seiner Werke für oder mit Orchester präsentieren. «Meine Orchestermusik ist wie eine reine Version von mir», stellt er fest. In einer Partitur müsse alles bis ins kleinste Detail auskomponiert und durchdacht sein.
Ein Rocksong sei hingegen fast besser, wenn er noch etwas unfertig sei, wenn Raum für Improvisation bleibe. Ein Song sei auch viel schneller geschrieben als ein Orchesterstück – für letzteres brauche er etwa ein Jahr.
Zu Beginn seiner Karriere arbeitete er in New York mit den Minimalisten Philip Glass und Steve Reich zusammen. Mit beiden ging er auf Tour. «Sie sind grossartige Komponisten und liebenswerte Menschen, die mich sehr unterstützt haben», sagt Dessner.
Ein musikalischer Plünderer
Repetitive Muster kommen auch in Dessners Werken immer wieder vor – nicht selten stellt sich beim Hören ein Flow-Effekt ein.
Aber eigentlich hätten ihn Witold Lutosławski, Henri Dutilleux, Igor Strawinsky oder Béla Bartók mehr beeinflusst. Diese und andere Komponisten des 20. Jahrhunderts hätten mit ihren Orchestrierungskünsten «unglaubliche Blaupausen für Klangeffekte» hinterlassen. «Ich bin in gewisser Weise ein musikalischer Plünderer», fährt er fort.
Dessners Musik glänzt in schillernden Klangfarben, teils in so aparten Kombinationen wie Orchester mit E-Gitarrenduo in «St. Carolyn by the Sea» (2011). Eng und seit langem befreundet ist Dessner auch mit den Königinnen des Klavierduospiels, Katia und Marielle Labèque.
Mit ihnen und dem Gitarristen David Chalmin spielt er im ebenso aussergewöhnlich besetzten Dream House Quartet.
Wahlkampfsong für Biden?
Einer von Bryce Dessners berühmtesten Songs ist «Fake Empire». Barack Obama verwendete ihn für seine Wahlkampagne 2008. Schreibt Dessner vielleicht auch für den jetzigen US-Wahlkampf einen Song? Und wenn ja, für wen?
«Definitiv nicht Trump. Trump ist das Schlimmste, was Amerika je passiert ist», sagt er. Aber wenn Präsident Joe Biden einen ihrer Songs auswählen würde, dann wären sie sehr glücklich. Dessner schlägt «Mr. November» vor, «damit Biden im November gewinnt».