Ein Holzstab steht an die Wand gelehnt in Thomas Kesslers Arbeitszimmer. Der Stab ist lose umwickelt mit alten Tonbändern. Er schaut ein bisschen aus wie eine verspielte Version eines Totempfahls.
Und er hat auch eine ähnliche Funktion wie die Skulpturen der Native Americans: Er erinnert an frühere Zeiten, an die Urzeit der elektronischen Musik. Kessler hat den Stab als Erinnerungsstück aufbewahrt und in seinem Haus in Allschwil aufgestellt. Wenn er dort komponiert, hat er ihn immer im Blick.
Revox-Maschinen und eine Reliquie
Thomas Kessler hat im Bereich der elektronischen Kunstmusik tatsächlich Pionierarbeit geleistet: 1965 hat er in Berlin ein elektronisches Studio eingerichtet. Dort, wo damals in dieser Musiksparte noch gar nicht viel los war – im Gegensatz etwa zu Paris oder Köln, wo Schaeffer und Stockhausen schon seit den frühen 1950er-Jahren elektronisierten.
Mit drei Revox-Tonbandmaschinen stattete Kessler dieses kleine Studio aus: Improvisation war gefragt, denn ein Mischpult gab es nicht. Das eine oder andere Tonband an seinem Elektronik-Totempfahl ist wohl eine Reliquie aus jener Zeit.
Auch in der Schweiz war Kessler massgeblich an der Entwicklung der elektronischen Musik beteiligt. Er leitete das schon existierende elektronische Studio Basel ab 1987 und baute es aus.
Immer in Bewegung
Mittlerweile ist Kessler 81 Jahre alt und seit Jahrzehnten ein international arrivierter Komponist. Am diesjährigen Lucerne Festival wird er mit einer Retrospektive gewürdigt, mit Hauptwerken aus seinem Oeuvre, mit jüngeren Stücken und auch mit einer Uraufführung.
Diverse Werke für einzelne Soloinstrumente und Elektronik sind in seinem wegweisenden Control-Zyklus (1974-2005) zusammengefasst. Dort hantieren die Instrumentalistinnen und Instrumentalisten mehr oder weniger selbstständig mit Live-Elektronik. Sie verfremden damit den Klang, den sie gerade spielen. Es ist Musik, die sich kaleidoskopartig selbst spiegelt und verändert.
Tablets mit Fusspedalen
In «Utopia III» (2016) geht Kessler noch weiter und komponierte ein Stück für 51 Musizierende, die – ähnlich wie in den «Control»-Stücken – mit Tablet-Computern und elektronischen Fusspedalen ausgestattet sind.
Sie morphen ihre Klänge grösstenteils selbst, reichern ihr Spiel gemäss den Anweisungen in der Partitur mit Effekten an, oder sie nehmen den Klang ihrer Kollegen auf und spielen ihn zurück.
Gomringer-Uraufführung in Luzern
Uraufgeführt wird von Kessler aber ein neues Werk ganz ohne Elektronik, eines für Sopran und Klavier, mit performativem Anteil. Der Komponist verarbeitet darin das nicht unumstrittene Gedicht «avenidas» von Eugen Gomringer, ein Frühwerk Konkreter Poesie aus dem Jahr 1953.
Er möchte damit einige jener südamerikanischen Frauen ehren, welche beispielsweise für soziale Gerechtigkeit gekämpft haben. Auch das ist Kessler: Weltbürger sowie politisch interessiert und engagiert.
Mit den Vornamen dieser Frauen erweitert Kessler Gomringers minimalistischen Text, und die Sängerin soll sich während der Aufführung quer durch den Konzertsaal bewegen, wie auf einer Avenida.
Entspannung ohne Elektronik
Fast eine Entspannung ist das Komponieren ohne Elektronik für Thomas Kessler, dessen Gesamtwerk auch viele rein akustische Stücke umfasst.
Es sei insgesamt leichter, und das mühsame, an sich unmusikalische Programmieren und Werkeln mit Computern entfalle. Das, was früher das Schneiden der Tonbänder war, die nun am Stab bei ihm zuhause hängen.